Das Buch ist gut, sehr gut! Das steht fest. Dem scheinbar widersprechend möchte
ich am liebsten den Autoren fragen: Warum hast du das Buch geschrieben, warum
über ein solches Monstrum? Gibt es diesen "Menschen" in der Realität
(allerdings werden wir sehen, dass es IHN gar nicht geben muss, da er eine Zunft
repräsentiert, die viel zu viele Mitglieder zählt und weit verbreitet
scheint)? Wer soll dieses Buch lesen? Menschen, die sich für Serienmörder
interessieren, gar begeistern? Menschen, die sich einfach mal ordentlich ekeln
wollen? Menschen, die nach der Lektüre sagen wollen: "Pfui, was für ein
Monstrum!" (wobei unklar bleibt, wen sie damit meinen).
Ja, was hat dich, Stefan T. Pinternagel, an diesem Thema gefesselt, damit du
dieses umfangreiche, wohl durchdachte, sicher aufwändig recherchierte Buch
schreiben konntest?
Dabei ist der Autor gar nicht vom "Fach": Sein Oeuvre umfasst bis dato
Lyrik, Gegenwartserzählungen, SF, auch Horror - so weit ich weiß. Auch dieses
Buch ist Horror, aber ohne phantastische Elemente, dazu fast dokumentarisch,
zumindest durchsetzt mit dokumentarischen Elementen.
Der Ich-Erzähler ist ein Serienmörder, und er weiß es, kann sich also nicht
herausreden, er wäre schizophren, und der "Andere" wäre der Täter;
und er ist Sadist und Kannibale, so wie wohl viele dieser Serienmörder, die
Menschen töten ohne Motiv. D.h., Gründe zum Töten haben sie alle, so auch
dieser Typ, der sich erst ganz zum Schluss eine Art Namen gibt: "Holiday
Killer". Sein "Motiv" ist in erster Linie sexueller Natur, ihm
geht einfach einer ab, wenn er einen Menschen quält, foltert, erniedrigt,
tötet. Und er erklärt dem willigen Leser weltanschauliche "Motive",
indem er zivilisationskritisch über die Menschen richtet, zu denen er sich
selbst und seinesgleichen (die Serienmördermonster dieser Welt) nicht zählt.
Wir Menschen werden nur als Schweine, oder noch entfremdeter, als
"Dinger" bezeichnet, denen er quasi noch einen Gefallen tut, indem er
sie von ihrem tristen Dasein erlöst.
An Einzelheiten und Details wird nicht gespart; da der Erzähler auch der Täter
ist, der sich jenseits unserer Moral und Ästhetik bewegt, wird das
Zerstückeln, das Quälen, Zubereiten etc. fast nüchtern berichtet.
Warum erzählt er eigentlich das alles? In der Geschichte ist der Holiday Killer
ein einsamer Mensch, der sich seiner "Heldentaten" nicht rühmen kann,
da er ja sonst gefasst würde. Also legt er diesen Bericht ab, der vielleicht
eine Beichte werden sollte, aber er hat nichts zu bereuen, er braucht keine
Absolution; Gnade hätte er ohnehin nicht verdient.
Also erzählt er, wie er in einem abgelegenen französischen Dorf ein
gelangweiltes deutsches Touristenpaar aufgabelt, sie unter Vorwand in sein
Feriendomizil, ein abgelegenes Gehöft, lockt, sie dort ... Nun ja, das müsst
ihr schon selber lesen.
Dazwischen, immer, wenn die Folterungen einem vermeintlichen Höhepunkt entgegen
gehen, oder ein Spannungsbogen anderer Art aufgebaut wird, driftet er ab in
Erinnerungen: Kindheit, Jugend, erstes Morden, besondere Morde. Dazu fast
philosophische Gedanken, die man einem kritischen Intellektuellen zuschreiben
könnte, der der Autor sicher ist. Da wird es fast plausibel, warum ER mordet.
Aber nein, Mitleid, Verständnis etc. kann man eigentlich doch nicht mit IHM
haben. Aber ich gebe es zu, es ist wie ein Sog, der einen bis zum Schluss in
Atem hält. Dort stößt man dann auf den einzigen echten Schwachpunkt des
Romans: Es wird keinen Höhepunkt geben; das Morden endet klarerweise mit dem
Tod, der Mörder wird nicht gefasst, das Grauen kann weitergehen.
Und genau das ist auch die große Stärke des Romans: Der Leser wird sich einer
latenten Unsicherheit bewusst. Wir leben in einer Gesellschaft, die uns vor uns
selbst schützt; man kann sich in ihr arrangieren, kann in ihr leben (spannend
oder langweilig, wie es einem passt, wie er / sie es hinbekommt). Aber diese
Monster, die aus keiner fremden Dimension kommen, nicht aus dem Weltraum oder
aus einer anderen Zeit, sind unter uns, leben als gute Nachbarn, sind
hilfsbereit, nett, folgen in bürgerlichen Anstellungen einer Lebenslinie, die
die eigene sein könnte. Das bringt ER im Text zum Ausdruck, direkt, aber auch
latent, gerade auch durch dieses offene Ende: Er wird nicht gefasst, er macht
weiter.
Stefan T. Pinternagel ist ein Könner, er kann beschreiben, Umstände,
Begebenheiten packend und anschaulich beschreiben; man ist als Leser mittendrin.
Und er schreibt spannend, gut. Die Sprache des Serienmörders ist kultiviert,
außer, wenn er auf der Jagd ist, erregt, geil, dann mischen sich Fäkal- und
Vulgärsprachfetzen dazu, immer mehr, bis der Knoten platzt.
Der Roman ist mehr als Unterhaltung (wie man tatsächlich davon unterhalten sein
soll, ist die Frage; ich war eher betroffen, schockiert, baff und gepackt), er
macht mit dem Phänomen "Serienkiller" auf umfassende Weise bekannt.
Der Holiday Killer listet in seiner Erzählung "Kollegen" auf, ihre
Taten, Motivationen, ihr Ende. Ganz am Schluss gibt es eine Liste mit allen (?)
Namen bekannter Serienkiller und der Zahl ihrer (wahrscheinlichen) Opfer.
Schließlich frage ich mich (und den Autor): Wie kann man das Denken und Fühlen
eines solchen Monstrums nachvollziehen; wie kann man sich in so einen Typen
hineinversetzen? Ist das authentisch, was ich da gelesen habe?
OK, ich kann das Buch allen empfehlen, die meinen, starke Nerven dafür zu
haben; kurz nach oder vor dem Essen sollte man allerdings darauf verzichten.
Die im Text auftauchenden Fragen sind nicht (nur) rhetorischer Natur, denn sie
fanden Antworten beim Autor, Stefan T. Pinternagel:
"Ich bin sehr froh, dass du Fragen an mich stellst, damit ich erklären
kann, was mich zu diesem Roman "getrieben" hat. Zum einen natürlich
mein Interesse an Serienkillern. "CyberJunk" (bzw. "Im
Netz", wie der Roman bei GOBLIN-Press hieß) behandelt ja auch das Thema
Serienkiller, wenn auch nicht so intensiv wie "Fragmente". Trotzdem
spiegelt sich auch in dieser utopischen Geschichte mein Versuch wider, zu
verstehen, wie jemand zum Mörder, bzw. zum Serienmörder werden kann.
"Fragmente" erscheint mir als die konsequente Weiterführung dieser
Überlegungen. Das Thema hat mich seitdem nicht mehr losgelassen und ich plane
auch für die nächsten Jahre, mich an einem Theaterstück über den deutschen
Serienmörder Peter Kürten, "Der Vampir von Düsseldorf", zu
versuchen.
Ja, das Buch ist brutal und - wie ich hoffe und auch immer wieder bestätigt
bekomme - abstoßend, und eben das soll es auch sein! Denn Serienkiller und ihre
Taten sind brutal und abstoßend, sie haben nichts mit den sterilen
Hollywoodmördern zu tun, die Opfer gehen nicht einfach mal so schnell über den
Jordan, sie leiden! Mich hat es immer schon aufgeregt, wenn z.B. in einem
Western ein Indianer mit einem Pfeil auf einen Cowboy schießt (ihn womöglich
noch in den Bauch trifft) und der sofort tot umfällt. Rühmliche Ausnahme eines
solchen Unsinns ist "Der mit dem Wolf tanzt". Genauso habe ich mich
immer über die Morde der Serienkiller geärgert, die Ruckzuck einem Menschen
die Kehle durchschneiden und der fällt um und ist tot. Wie lange lebt man noch,
wenn einem die Kehle aufgeschnitten wird? Wie lange fühlst du das Blut zwischen
deinen Händen, wenn du instinktiv versuchst, die klaffende Wunde zuzuhalten?
Wie ist es, wenn du dein eigenes Blut schmeckst, wenn es vielleicht sogar in die
Lunge rinnt und dich röcheln lässt? Merkst du noch, dass der Mörder über dir
steht und anfängt zu onanieren? Davon sieht man in den Filmen nicht viel. Das
ist dann vermutlich auch der Grund, warum Serienkiller zu den neuen Idolen einer
TV-orientierten Jugend werden können, warum es "cool" ist, ein
Serienkiller zu sein. Und natürlich können sich auch die Erwachsenen der
morbiden Faszination nicht entziehen.
Und jetzt komme ich mit diesem schrecklichen Roman und nehme dem Leser den
Glauben an einen schnellen Tod, an die heile Welt, in der er sich befindet. Ich
zeige ihm eine andere Dimension, eine Dimension des Grauens, und das wirklich
Schlimme daran: Es gibt diese Dimension tatsächlich! Darf ein Autor so weit
gehen? Ich denke ja. Ich glaube, manchmal muss man so weit gehen, um den
Menschen die Augen zu öffnen. Und ich hoffe, ich erreiche mit
"Fragmente", dass die Leser in Zukunft Filme wie "Hannibal"
oder "Natural Born Killers" mit anderen Augen sehen.
Das war mein Bestreben, als ich anfing "Fragmente" zu schreiben. Und
noch ein weiteres, wenn auch sehr hohes Ziel, hatte ich mir gesteckt: Ich wollte
etwas schreiben, das sich - zumindest ein wenig - mit Hubert Selbys
"Mauern" messen kann. Dieses Buch war (und ist) für mich ein
Schlüsselroman; niemals vorher habe ich beim Lesen eines Textes so viel Ekel,
aber auch ein so perverses Vergnügen an kranken Gedankengängen empfunden.
"Mauern" war sicher mit ein wichtiger Grund für "Fragmente"
und ich kann das Buch nur jedem empfehlen, der an den Abgründen menschlicher
Gewaltfantasien interessiert ist.
Zur Frage, wie ein Autor sich in das Denken und Fühlen eines solchen Monstrums
hineinversetzen kann, kann ich nur sagen (ohne mich selbst anpreisen zu wollen),
dass doch genau das der Punkt ist, der einen guten Schriftsteller ausmacht. Und
wer weiß: Vielleicht schlummert in mir selbst ein Serienkiller, dem ich aber
nur erlaube, auf dem Papier aktiv zu werden."
Fazit
Nichts für schwache Nerven!
Vorgeschlagen von Thomas Hofmann
[Profil]
veröffentlicht am 17. Juli 2003 2003-07-17 10:31:28