Seit dem Tod ihrer Mutter, die vor kurzem an Krebs gestorben ist, hat Sofie sich
noch stärker als früher von ihren Mitschülern zurückgezogen. Einzig das
Malen macht der 15-Jährigen noch Freude. Das Verhältnis zwischen Sofie und
ihrem Vater ist zur Zeit nicht das Beste; denn beide haben sich in ihre Trauer
vergraben und sprechen kaum noch miteinander. Als Frank Sofie anbietet, ihn auf
der Reise zu einem Fotoauftrag an die Pazifikküste der USA zu begleiten, hofft
er seiner Tochter in anderer Umgebung wieder näher zu kommen. Frank und Sofie
mieten sich auf der Olympic Halbinsel in einem kleinen Motel ein. Freda, die
Inhaberin, gehört dem Stamm der Makah-Indianer an. Im Ort wird in einigen
Wochen der traditionelle Besuch befreundeter Küsten-Indianer-Stämme erwartet,
die mit dem Kanu eintreffen werden. Noch ist es sehr ruhig in Fredas Motel, so
dass ihr Sohn Javid Zeit hat, Sofie von den Traditionen und Schöpfungsmythen
der Westküstenbewohner zu erzählen. Copper - Kupfer - nennt Javid die
Besucherin aus Deutschland. Die Kupferfrau spielt in den Überlieferungen seines
Stammes eine wichtige Rolle.
Sofie hat sich schon als Kind für Wale interessiert und ist von ihrer ersten
Begegnung mit Orcas hingerissen. Sofie hätte die spielerisch vorbeiziehenden
Tiere aus dem Boot von Javids Onkel beinahe berühren können. Die Waljagd ist
fester Bestandteil der Makah-Kultur und wird den Indianerstämmen der
Pazifikküste, streng kontrolliert, von den Behörden inzwischen wieder erlaubt.
Sofie ist anfangs schockiert, dass wieder Wale gejagt werden dürfen. Auch die
spirituelle Welt, die fester Bestandteil der Makah-Kultur ist, bleibt Sofie
zunächst fremd. Javid erzählt, dass sein Vater vor einiger Zeit beim Fischen
tödlich verunglückt ist. Javid wird zu Ehren des Vaters eines Tages die
Tradition der Waljagd mit der Harpune fortsetzen. Während Sofie jede
Gelegenheit nutzt, gemeinsam mit Javid Orcas zu beobachten, zeigt sich Frank
zunehmend schlecht gelaunt. Sofies Vater kann sich nur schwer damit abfinden,
dass seine Tochter, sein kleines Mädchen, eigene Pläne hat und sich zum
gutaussehenden Javid hingezogen fühlt. Durch die Gespräche mit Javid lernt
Sofie allmählich, die enge Beziehung zu ihrer Mutter wertzuschätzen und ihre
Trauer anzunehmen. Erst nach einigen Missverständnissen kann Sofie sich
eingestehen, das sie Javid liebt.
Einen bedeutenden Teil des Buches nehmen stimmungsvolle
Landschaftsbeschreibungen der Wälder an der amerikanischen Pazifikküste und
sorgfältig recherchierte Informationen über die Kultur der Makah-Indianer ein.
Mit dem aus dem kalten Meer aufsteigenden Nebel und der unheimlichen
Atmosphäre unter ständig tropfenden Baumriesen hat die Autorin die besondere
Stimmung in "kalten Regenwäldern" treffend charakterisiert.
Fazit
Durch die einfühlsame Art des jungen Indianers Javid lernt Sofie, die Trauer
um ihre Mutter anzunehmen und die Gefühle ihres Vaters zu akzeptieren. Obwohl
Sofies Ankunft in den USA unrealistisch glatt verläuft - man könnte denken,
dass sie ihre Ferien schon immer in den USA verbracht hat - entwickelt sich
Antje Babendererdes melancholische Geschichte einer Ferienliebe durchaus
glaubwürdig. Die Sichtweise der Malerin Sofie mit ihrem besonderen Auge für
Stimmungen und Farbtöne macht "Gesang der Orcas" zu einem in leisen
Tönen erzählten Jugendroman, dessen Landschaftsbeschreibungen auch erwachsene
Leser begeistern werden.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 01. Juni 2010 2010-06-01 11:43:31