Suchen und Finden
Ein (fiktives) Bild des Malers Giovanni Sergantini (1858-1899), der seine
letzten Lebensjahre im der Nähe des schweizerischen Bergdorfes Maloja
verbrachte, ist die Blaupause, auf der Dörthe Binkert nach ihrem Bestseller
"Weit über das Meer" die Geschichte ihres neuen Romans entwickelt.
Im exklusiven Luxushotel "Kursaal Maloja" vernetzen sich die Wege
unterschiedlichster Personen. Nika, Findelkind und ohne Wissen über ihre
Herkunft, erhält eine Anstellung im Hotel. Achille Robustelli, der
stellvertretende Direktor und Personalchef folgt damit der Empfehlung Andrinas,
eines Dorfmädchens, das er im Stillen begehrt. Giovanni Sergantini,
international bekannter Maler, ist häufiger Gast in Dorf und Hotel. James, der
Dandy und Verführer reist für eine Reportage über den Maler aus dem
benachbarten St. Moritz an, bereit, seine Verführungskünste an Mathilde, der
Tochter aus bestem Haus und Tuberkulose Patientin zu erproben. Ein Netz aus
Beziehungen entsteht, in dem sich immer wieder Räume für überraschende
Wendungen eröffnen.
Getragen werden die entstehenden Nähe und Distanzen durch den eigentlichen
Hauptstrang des Buches, der Suche Nikas nach ihrer Herkunftsfamilie. Als
Kleinkind ausgesetzt und nur durch ein Medaillon mit ihrer Vergangenheit
verbunden, findet sie in Sergantini nicht nur einen Maler, der sie als Modell
gewinnt, sondern auch einen Vertrauten, der mit ihr als Rätsel ihrer Herkunft
löst. Allerdings, anders als zu erwarten löst.
Das Motiv des Findelkindes auf der Suche nach der eigenen Herkunft ist aus der
Literatur sattsam bekannt und in vielfachen Variationen bereits zu Papier
gebracht worden. Meist natürlich mit einem eher kitschigen Happy-End, in dem
das Findelkind sich als Tochter aus reichem Hause erweist und selbstredend zum
Ende der meisten Geschichten den Prinzen auf dem Schimmel noch für sich
ergattert.
Dörthe Binkert geht in ihrem Roman andere Wege. Weniger die äußeren
Ereignisse stehen im Mittelpunkt des Intereses, sondern die Entwicklungen der
einzelnen Personen.
"Der Maler Sergantini arbeitete langsam". Wie der Maler nimmt sich
Dörthe Binkert Zeit für ihre Skizzen, im ersten Teil des Buches werden
treffsicher und gemächlich die handelnden Personen und die vom Feudalismus
ständisch geprägte Zeit der illustren Gesellschaft im Luxus Hotel
vorgestellt. Nebenbei erfährt der Leser einiges über den Maler Giovanni
Sergantini, seine Methoden und Motive. Mögliche Entwicklungsräume der
Protagonisten werden ebenso angedeutet und eröffnet. Entwicklungen, die im
Verlauf des Buches lange offen bleiben und damit der Handlung ihre eigentliche
Spannung geben.
Mit Einfühlungsvermögen gibt Dörthe Binkert auf dem Weg durch das Buch damit
den handelnden Personen durchaus Tiefe und erst am Ende wird der kryptische Satz
des Umschlages "Du wirst mich suchen und dich finden" in seiner
Bedeutung offenbar.
Fazit
Eine ausführliche und treffsichere Beschreibung innerer Entwicklungen mit einem
genauen Blick für das Detail der Personen, der Landschaft und der Zeit zum Ende
des 19. Jahrhunderts hin legt Dörthe Binkert mit ihrem Buch in gemächlichem
Tempo vor. Spannungsmomente sind bei der Lektüre nicht zu erwarten, wohl aber
vielschichtige Personen und überraschende innere Entwicklungen.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 30. Mai 2010 2010-05-30 17:59:26