Der Heimweg am Kanal entlang war für Rebecca der einzige Moment am Tag, den sie
für sich hatte. Unaufmerksamkeit bei ihrer Arbeit in der Fabrik könnte sie ein
paar Finger kosten und am Abend war Rebecca meist schon zu erschöpft, um ihren
temperamentvollen kleinen Sohn Niley ins Bett zu bringen. Heute hat Rebecca das
Gefühl, bedroht und verfolgt zu werden. Tatsächlich wird sie höflich von
einem gut gekleideten Mann angesprochen, der Rebecca für eine ganz andere Frau
hält, für Hazel Jones. Auf den wenigen Seiten des Prologs zieht Joyce Carol
Oates ihre Leser in eine düstere Atmosphäre, der man sich in der folgenden
Handlung nicht mehr entziehen kann.
Aus dem Jahr 1959, als viele Amerikaner wie Rebecca glaubten, nur als Übergang
in der Fabrik zu arbeiten, blendet Oates im zweiten Teil des Buches dreizehn
Jahre zurück in Rebeccas Kindheit. Die Familie Schwart war aus Deutschland
emigriert, der Vater fand Arbeit als Totengräber in Milburn, südlich des
Ontario-Sees. Mit ihren drei Kindern lebten die Schwarts unter einfachsten
Verhältnissen in einem einfachen kleinen Steinhaus auf dem Friedhof. Rebeccas
Mutter, die die Flucht aus Deutschland und Rebeccas Geburt unter dramatischen
Umständen nie bewältigt hat, ist offenbar schwer psychisch krank. Vater Jakob
Schwart, der damals in Deutschland u. a. Mathematik unterrichtet hatte, steigert
sich schon bald in eine Außenseiterrolle hinein. Er fühlt sich von Feinden
umgeben, verhindert jeden Kontakt seiner Familie mit anderen Menschen. Schwart
ist unberechenbar, gewalttätig, so dass seine Kinder früh lernen, ihm aus dem
Weg zu gehen und ihm zu verheimlichen, was ihn aufregen könnte. In der
Abgeschlossenheit dieser Familie lernen Rebeccas Brüder kaum Englisch, der
ältere scheitert in der Schule, der jüngere ist dem Vater zu schmächtig, nur
die bereits in den USA geboren Rebecca nimmt eine Sonderrolle ein.
Noch vor ihrem 18. Geburtstag gelingt es Rebecca sich von den bedrückenden
Verhältnissen zu befreien. Sie findet Arbeit, lernt den charmanten Niles
kennen, der beinahe doppelt so alt ist wie sie. Wir sind zurück im Jahr 1959,
in wenigen Worten entsteht ein deprimierendes Bild der jungen Ehe. Rebecca will
ihren Mann mit dem Kind verlassen. Doch einen Mann, der so leicht zu beleidigen
ist wie Niles, verlässt eine Frau nicht ungestraft. Wenn Rebecca ihren Frieden
finden will, muss sie alle Brücken hinter sich abbrechen, damit Niles sie nicht
über den gesamten amerikanischen Kontinent verfolgen kann. Der dritte Abschnitt
des Buches folgt Rebecca und ihrem Sohn Niles junior während der folgenden
zwanzig Jahre. Ein letztes Kapitel nimmt noch einmal die Frage auf, ob jemand
wie Rebecca sich von den schrecklichen Erlebnissen ihrer Kindheit und dem
Einfluss eines gewalttätigen Ehemanns befreien kann, ob es möglich ist sein
altes Leben abzuschütteln und noch einmal ganz neu zu beginnen.
Die bedrohliche Situation, die Rebecca auf dem Heimweg aus der Fabrik erlebt,
hat mich vom ersten Moment an völlig in ihren Bann gezogen. Oates schafft in
dieser alltäglichen Szene eine bedrückende Atmosphäre, die allein in Rebeccas
Gedanken entsteht. Rebeccas Kindheit, geprägt von der selbst auferlegten
Verpflichtung, die Mutter nicht mit dem gewalttätigen Vater allein lassen zu
dürfen, beobachtet die Autorin sehr nüchtern, beinahe emotionslos. Jakob
Schwart, seine Gewalttätigkeit und seine Unfähigkeit, sich in Frau und Kinder
einzufühlen, schockieren. Man kann sich der Schilderung Rebeccas trostloser
Kindheit keine Minute entziehen, möchte in allen Einzelheiten erfahren, ob
Rebecca sich aus diesen Verhältnissen lösen kann und wie sie als Erwachsene in
die Beziehung zu einem Mann geraten konnte, der in seinem Besitz- und
Allmachtsanspruch Jakob Schwart so verblüffend ähnelt.
Fazit
Mit Leichtigkeit und Präzision lässt Joyce Carol Oates düstere, abstoßende
Szenen vor den Augen ihrer Leser entstehen. Über die Grenzen von Kulturen und
Epochen hinweg zeigt sie am Schicksal der Schwarts, wie es dazu kommen kann,
dass Familien sich völlig von anderen Menschen abschließen und durch ihre
Absonderung jede Hilfe von außen unmöglich machen. Ein berührender,
vielschichtiger Roman, mit dem Oates ihre Fähigkeit, sich in schwierige
Persönlichkeiten einzufühlen, zur Perfektion gebracht hat.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 29. Mai 2010 2010-05-29 11:38:48