Gewaltig
Nach dem Roman "Als wir träumten" 2006 und dem Erzählband "Die
Nacht, die Lichter" 2008 hat Clemens Meyer im Jahr 2009 ein interessantes
Experiment als Auftragsarbeit des Fischer Verlages auf sich genommen. Ein
"Tagebuch" hat er erstellt. Allerdings natürlich, das wäre bei ihm
auch nicht zu erwarten gewesen, nicht im Sinne eines täglichen Niederschreibens
alltäglicher Begebenheiten. Ganz im Sinne auch seiner bisherigen Ausrichtung
lässt er das Jahr 2009 im Blick auf das urmenschliche Thema der
"Gewalt" auf sich wirken und schreibt in bekannt direktem,
ungeschminktem und damit unmittelbar betreffendem Stil "Geschichten der
Gewalt".
Geschichten, von denen manche das Land erschütterten wie der Amoklauf von
Winnenden greift er verfremdet und doch umso eindringlicher auf, so dass der
Leser sich Wort für Wort mehr in die Gedankenwelt eines möglichen Amokläufers
hineingezogen sieht. Einen Kindermörder begleitet er in erzählerischer Tiefe
im "Fall M" genauso, wie er die Zerfahrenheit des Spielsüchtigen
erlebbar vor Augen führt.
Schon die ersten Sätze des Buches konfrontieren mit der Ohnmacht, die Gewalt
auslöst und deren Spuren lange in sich getragen werden. Wie da die Fixierung im
Krankenbett der geschlossenen Abteilung geschildert wird und die Hilflosigkeit
noch durch den Verlust der Brille gesteigert wird, dass hat eine Dichte, die
fesselt. Und im Blick auf eine bestimmte Sorte von Fußballfans, die schon im
jüngsten Alter wie nebenbei gegnerischen Fans roh gegenübertreten, lässt die
Lust daran verlieren, Stadien (und damit diese Welt der Gewalt als
"Entspannung") weiterhin zu betreten.
Jederzeit kann die Gewalt ausbrechen und ihre vernichtende Spur ziehen. In
diesen Spuren verliert sich Clemens Meyer sicherlich hier und da. Der
Tagebucheintrag "Die Stadt M." mit dem Thema der Prostitution scheint
mir innerlich doch ein wenig zu zerfasern und nur mehr durch eine möglichst
direkte und unflätige Sprache zusammengehalten werden.
Demgegenüber erleben die einzelnen Geschichten noch einmal eine erhöhte
Verdichtung dort, wo es ganz persönlich wird. Nicht unbedingt autobiographisch,
die Lebensanteile von Clemens Meyer sind nicht offenkundig auszumachen, aber da,
wo es ins private, intime geht, das ist schon manches Mal schwer zu ertragen.
Das Sterben des Freundes im Krankenhaus, die niederdrückende Hoffnungslosigkeit
des Ortes an sich bereits (im Wissen, dass überwiegend heutzutage in dieser
Form an vielen Orten dem Tod entgegen gestorben wird) und das ganz und gar nicht
friedliche, sondern von Scham und tiefer Befremdung begleitet Sterben lassen
schaudern.
Anders in Sprache und Stil das letzte Kapitel, vielleicht das persönlichste zum
Tod des Hundes. In Anlehnung an Wolfgang Borchert "Draußen vor der
Tür" genannt und ebenso wie die Geschichte Borcherts getragen von der
Befindlichkeit des "Draußen-Stehens" und nicht wissen, wie
hineingelangen. Ganz direkt geschildert in der Szene des
"sich-ausgesperrt-haben" aus der eigenen Wohnung, dem eigenen Leben.
Auch hier beschreibt er minutiös den Vorgang des Todes und hält hier dennoch
sachlich Distanz. Eine Distanz, die gerade aufgrund der sachlichen Schilderung
doch wieder ganz mit hineinnimmt in das Geschehen.
Ebenso wie das gewählte Thema stellt sich die Sprache von Clemens Meyer oft
dar. Roh, manchmal, unterschwellig aggressiv oft. Lakonisch, direkt, den Fokus
der je beschriebenen Gewalt findend und nicht wieder loslassen, diese Art des
Erzählens und Beschreibens sorgt für eine hohe Geschwindigkeit und ein
immerwährendes "Mit hinein nehmen" des Lesers. Unmittelbar beteiligt
Clemens Meyer den Leser an den Formen der Gewalt und dem, was sie auslöst und
hinterlässt.
Nicht in allen erzählten Geschichten gelingt dies in gleicher Dichte, dennoch
ist dieses Buch wie ein Spiegel der allzu menschlichen Neigung gegenüber, das
Grausame und Bedrängende zur Seite zu schieben. Zumindest während der Lektüre
gelingt dieses verdrängende Wegschauen nicht. Und das ist gut so.
Fazit
Gewalt, die wirklich wehtut, so, wie es das Titelbild deutlich in den Raum
stellt.
Vorgeschlagen von Lesefreund
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veröffentlicht am 18. Mai 2010 2010-05-18 14:49:42