"Ich komme ja nicht als Richter oder Ankläger in eine Schulklasse....
Vielmehr will ich deutlich machen, was eine Diktatur für einen einzelnen
Menschen bedeutet und wie viel wertvoller für uns alle unsere Demokratie
ist." Der 1920 in Nordmähren geborene Max Mannheimer ist als Zeitzeuge
ein gefragter Gast an deutschen Schulen. Mannheimer, einer der letzten
überlebenden Zeitzeugen des Nationalsozialismus, der diese anstrengende
Vortragstätigkeit noch leisten kann, äußert sich als Interview-Partner und
als Verfasser des Vorworts.
Hermann Vinke, renommierter Autor von für Jugendliche geschriebenen Biografien
(
Das kurze Leben der Sophie Scholl,
Carl von Ossietzky) ist überzeugt, dass zum Thema
Nationalsozialismus längst nicht alles erzählt ist. Vinke wählt Sport als
Einstiegsthema und zieht seine Leser mit dem 2009 unter dem Titel "Berlin
'36" mit Karoline Herfurth verfilmten Schicksal der Hochspringerin Gretel
Bergmann förmlich in sein Buch hinein. Mit der Gegenüberstellung
gegensätzlicher Zeitzeugen innerhalb eines Kapitels provoziert Vinke, darüber
nachzudenken, wie Menschen Nutznießer, Mitläufer oder Opfer des
Nationalsozialismus werden konnten. - Bergmann, die als Jüdin nur zu den
Olympischen Spielen zugelassen wurde, um deren Boykott zu verhindern, steht Sepp
Herberger gegenüber, der sich als ehrgeiziger Aufsteiger von seiner
NSDAP-Mitgliedschaft einen Karriereschub versprach. Warum rechtfertigte Hitlers
Sekretärin Traudl Junge (* 1920) sich bis ins hohe Alter, sie noch zu jung
gewesen, um die Folgen des Nationalsozialismus absehen zu können? Warum waren
Sophie Scholl (*1921) und Cato Bontjes van Beek (*1920) alt genug dafür, unter
Einsatz ihres Lebens für ihre Überzeugungen einzustehen? Mannheimer, Mietek
Pemper, der an der Erstellung von Schindlers Listen beteiligt war, und die junge
Katarina Bader, die die Jugendbegegnungsstätte Auschwitz besuchte, schlagen den
Bogen von der Vergangenheit zurück in die Gegenwart.
Vinke stellt Vertraute und Weggenossen Hitlers vor, Angehörige der
französischen Résistance wie Stéphane Hessel, dessen Schicksal in Kogons
SS-Staat zu finden ist, oder die Auschwitz-Überlebende Simone Veil, die
spätere Präsidentin des Europäischen Parlaments. Generalfeldmarschall Paulus
teilt sich ein Kapitel mit Ludwig Baumann, der als 21-Jähriger aus Hitlers
Armee desertierte. Überlebende, die durch Krieg und Verfolgung als Kinder ihre
Eltern verloren (Jack Terry) oder als ehemalige Flüchtlinge heute um
Aussöhnung bemüht sind (Gudrun Pausewang) sind charakteristische Vertreter
der Kriegsgeneration. Mit der Darstellung Thomas Walters, der John Demjanjuk vor
Gericht brachte, und einer Zeitzeugin, die als 13-Jährige von Soldaten der
Russischen Armee vergewaltigt wurde, stellt sich Vinke auch kontroversen Themen.
Hermann Vinkes Kurzbiografien, die meist nicht mehr als 6 Seiten umfassen, Fotos
und ein abschließendes Interview lassen die von ihm portraitierten Personen
sehr lebendig wirken. Viele der Gesprächspartner Vinkes haben jahrzehntelang
über die Erlebnisse ihrer Kindheit geschwiegen. Das Dokumentieren ihrer
Erinnerungen wird zum gegenseitigen Geben und Nehmen. Die nachfolgenden
Generationen haben die Chance, ungeschönte Berichte zu hören. Die
Überlebenden des Nazi-Regimes verarbeiten ihre Erlebnisse, indem sie darüber
sprechen. Die Reise in ein Konzentrationslager, die Suche nach den Gräbern der
Eltern sind für viele von ihnen der erste Schritt zur
Vergangenheitsbewältigung.
Fazit
Hermann Vinke weckt mit seinem Buch für Jugendliche ab 13 Jahren das Interesse
am Schicksal bekannter wie bisher unbekannter Zeugen des Nationalsozialismus,
indem er Täter, Widerstandskämpfer und Opfer einander gegenüberstellt.
Mancher erwachsene Leser mag die geschilderten Ereignisse selbst als zu
belastend empfinden und deshalb Vorbehalte haben, das Buch bereits für
Dreizehnjährige einzusetzen. Eine Gliederung, die zum Herumschmökern einlädt,
sorgfältig recherchierte Artikel, zahlreiche Fotos und eine klare Sprache
machen Vinkes Zeitdokument zu einem idealen Buch für jugendliche Leser.