Eines Morgens steht Omi nicht auf und antwortet nicht auf Livs Rufen. Die
Nachbarin, Frau Möller, entdeckt, dass Livs Oma plötzlich verstorben ist und
kümmert sich um die Achtjährige. Livs Oma hat ihre Enkelin immer betreut, wenn
Livs Mutter als Reiseleiterin arbeitete. Oma und Enkelin verbnad ein sehr
inniges Verhältnis. Liv verbrachte gemeinsam mit ihrer Omi offenbar eine
Kindheit, in der Puppen gehäkelte Kleider tragen und kein Einfluss der Medien
zu spüren war. Livs Vater lebt getrennt von Exfrau und Tochter, zusammen mit
einer anderen Frau. Wenn Liv ihn in seinem neuen Haus besuchen könnte, würde
ihr Vater endlich erfahren, dass sie längst in die dritte Klasse geht und er
ihr nicht mehr in Erstklässler-Schrift zu schreiben braucht.
Liv erinnert sich, dass iihre Omi oft über den Tod gesprochen hat. Regelmäßig
war sie mit Liv zum Grab ihres Mannes unter der großen Zypresse gegangen, in
dem sie eines Tages auch begraben werden wollte. Livs Mutter hat nach dem
plötzlichen Tod ihrer Mutter viel zu erledigen, um die Trauerfeier und die
Beisetzung vorzubereiten. Obwohl sie sehr beschäftigt ist, nimmt sie sich die
Zeit, ihrer Tochter zu erklären, wie es ist, tot zu sein, nicht mehr zu
denken, nicht mehr müde zu werden. Beide sprechen nicht nur über den Körper,
sondern über Omis Seele. Am Abend im Bett, wenn die Fledermäuse aktiv sind,
fühlt Liv sich besonders einsam. Ihre Omi kann jetzt schweben und sie kann ihre
Enkelin mitnehmen, um ihr die Welt zu zeigen. Omi möchte Liv unbedingt noch
einige wichtige Dinge mit auf ihren Lebensweg geben. Wenn Omi am Abend zu Liv
kommt, kann sie nicht nur sprechen, sie kann sich stärker als früher in andere
Menschen versetzen. Omi hat noch die schlechten Zeiten nach dem Zweiten
Weltkrieg erlebt; deshalb beurteilt sie vieles anders als zum Beispiel Livs
Mutter. Mit jeder Nacht, die Oma und Enkelin gemeinsam unterwegs sind, wird die
Entfernung, die sie zurücklegen, weiter. Auch Liv sieht die Welt nun aus einer
anderen Perspektive, sie erweitert bei ihren Flügen ihren Horizont und schärft
ihre Urteilsfähigkeit. Die Großmutter richtet Livs Blick allmählich vom Jetzt
in die Zukunft. Auch Liv wird eines Tages alt sein, ihre Mutter wird dann schon
tot sein. Livs Mutter macht in den ernsten Gesprächen mit ihrer Tochter
ebenfalls deutlich, dass sie vielleicht nicht mehr leben wird, wenn Liv eines
Tages eigene Kinder hat.
In den Nächten, die Omi mit Liv verbringt, wird deutlich, dass Liv viel mehr
Zeit zum Abschiednehmen von der Verstorbenen gebraucht hätte. Doch Livs Mutter
muss schnell wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und bis dahin einen
Betreuungsplatz für Liv gefunden haben. Über einige Veränderungen im Leben
der beiden spricht Livs Mutter nicht, sondern sorgt für vollendete Tatsachen.
Mutters Freundin Bettina wird mit ihrer Tochter Paula in Omis Wohnung ziehen.
Nicht nur der Vater hat in dieser Familie eine eigenartige Vorstellung von
Neunjährigen. Livs Mutter setzt ihre Tochter mit der Drohung unter Druck, wenn
das Zusammenleben mit Bettina und Tochter Paula nicht klappt, müsste Liv eben
ins Heim. In dieser Szene frage ich mich: Wie wird ein rarer Heimplatz so
schnell zu finden sein und wer wird die Kosten dafür tragen? Als dann Paula in
Omis Wohnung lebt, hat Liv kaum noch Zeit, an Oma zu denken. Doch ihre
Großmutter begleitet Liv, solange sie sie braucht, um die Veränderungen in
ihrem Leben zu verarbeiten.
Der märchenhafte Anteil der Handlung erinnert mich stark an
Lola auf der Erbse, das auch von
Stefanie Harjes illustriert wurde. Lola und Liv, die beide durch Verlust und
Trennung aus ihrem bis dahin behüteten, sehr kindlichen Leben gerissen werden,
würden sich gut miteinander verstehen.