Ruth Rothwax ist die Tochter jüdischer Eltern, die den Holocaust überlebt
haben. Die 43-Jährige ist eine typische, leicht neurotisch agierende Frau, die
in New York lebt. Ungewöhnlich ist ihr Beruf - mit dem sie gutes Geld verdient:
Ruth Rothwax schreibt Briefe für andere Leute.
Ihre Mutter ist vor einigen Jahren verstorben, ihr Vater Edek lebt in Melbourne.
Ruth beschließt, ihren Vater zu einer Reise nach Polen einzuladen - und damit
zu einer Reise in seine Vergangenheit. Die anvisierten Ziele lauten Warschau,
Lodz, Krakau und Auschwitz. Die New Yorkerin hat sämtliche Reiseziele en detail
geplant und will mit ihrem Vater nicht nur sein Geburtshaus in Warschau
besichtigen, sondern auch Orte des Schreckens, wie das Konzentrationslager
Auschwitz, in dem ihre Eltern interniert waren. Sie hat Angst vor der Reise und
ist zugleich begierig daran interessiert, auf den Spuren ihrer Vorfahren zu
wandeln. Im Verlauf des Romans wird zunehmend deutlicher werden, dass nicht ihr
Vater die Auseinandersetzung mit der Shoah sucht, sondern Ruth, als
"Nachgeborene".
Während ihr Vater Edek sich in seiner alten Heimat für regelmäßige, üppige
Mahlzeiten, Fahrten im Mercedes und Frauen interessiert, ist seine einzige
Tochter massiv angespannt und auffallend nervös. Land und Leute irritieren sie
zutiefst. Bei jedem Polen wittert Ruth eine massive antisemitische Haltung.
Besonders bösartig geraten ist Lily Brett das polnische Ehepaar, das in der
Wohnung lebt, in der Edek aufgewachsen ist und die seine Familie bei der
Deportation verlassen musste. Die beiden alten Leute scheinen nur auf die
"reichen Rotwax-Juden" gewartet zu haben, um ihnen für viele Dollars
ihr damals zurückgelassenes Eigentum zu verkaufen.
Ruths Vater bleibt selbst in solchen Situationen gelassen und entspannt. Bei
Ruths beinahe täglichem Jogging, das die Amerikanerin natürlich auch in Polen
fortsetzt, spricht eine geisterhafte Stimme zu ihr. Es ist die Stimme von Rudolf
Höß - und Höß berichtet ihr aus seinem Leben als Lagerkommandant von
Auschwitz. Hier tauchen immer wieder wörtliche Zitate aus den Tagebüchern
Hößs auf, die - für diejenigen, die sie noch nicht kennen - höchst
interessant zu lesen sind.
Lily Brett zeichnet nicht nur ein kritisches Bild der Polen, sondern auch eines
der vielen Reisegruppen, die auf "den Spuren des Antisemitismus" durch
das Land reisen. Es fallen böse Worte über das Konzentrationslager, das als
"Museum" firmiert, über Reisegruppen, die durch das ehemalige
jüdische Viertel Krakaus geführt werden, das für sie allerdings lediglich
noch als Drehort des Spielberg-Films "Schindlers Liste" von Interesse
ist. Die "jüdischen Restaurants" werden nicht von Juden geführt,
sondern von polnischen Wirten, die Gerichte erfinden und als jüdische
Spezialitäten deklarieren.
Fazit
Lily Brett hat ein lesenswertes, interessantes und an manchen Stellen
bitterböses Buch geschrieben, dem man viele Leser wünscht - die jedoch auch
stets eine gewisse kritische Distanz wahren sollten.
Vorgeschlagen von Heide John
[Profil]
veröffentlicht am 09. Februar 2010 2010-02-09 18:51:00