Fromme und schöngeistige Appelle finden sich heute nahezu überall im medialen
Zirkus. Anstelle von problemlösendem oder systematischem Denken sind sie
deutliche Zeichen von Rechtfertigungs- und Ablenkungsideologien, die so manchen
Literaten oder Philosophen zur Weißglut treiben, weil dieser - so meint er
zumindest über sich - die Welt tiefgründiger betrachtet, sie durchschaut. Nur
sehr schöpferische Menschen haben folglich die Fähigkeit, die elementaren
Fragen unter allem ideologischen Wissensschutt nicht zu vergessen und darüber
hinaus für sich eigene Antworten mitsamt allen - auch negativen - Konsequenzen
zu finden. So sind nur von diffusen Schuldgefühlen freie Menschen nicht
manipulierbar und können ihrem eigenen künstlerischen Gewissen folgen. Dies
ist zugleich eine eindeutige Abkehr vom Opportunismus in der Kunst, der billigen
Käuflichkeit von Überzeugungen.
Nur so läßt sich auch die innere "Zerrissenheit" verstehen, von der
der Dichter Friedrich Hölderlin in seinem Hyperion schreibt. Sie beruht auf
einem nicht, noch nicht, gelungenen Verhältnis von Reflexion und Leben und
erhebt diese tragische Situation der Diskrepanz von Innen- und Außenwelt zur
eigenen Kunst des Seins. Hölderlin leistet in seinen letzten Jahren seiner
sogenannten "Verwirrung" mehr, als nur ein Demonstrationsobjekt für
den geistigen Verfall zu sein. Und er ist in der Literatur nicht das einzigste
Beispiel dafür, wie die Problemlösungsstrategien der verfetteten Normalität
keine Wirkung mehr für das Denken von Künstlern, Literaten, Dichtern oder
Philosophen hat, die angesichts der eigenen Ausweglosigkeit ihr geliebtes Metier
aufgeben.
Ulrich Horstmann liefert mit dem vorliegenden Band ein großartiges und
originelles Kapitel vergleichender Literaturgeschichte und befaßt sich mit
solchen Fragen des "Am-Schreiben-gehindert-Werdens" und des
"Sich-das-Schreiben-Verbietens". Horstmanns Komparatistik des
Scheiterns würdigt vor allem die Bedeutung einer "Entpathetisierung"
des künstlerischen Abdankens, die "Selbstdämpfung der tragischen
Potentiale" und überdenkt zudem, ob es nicht auch im Scheitern Elemente
des Sieges gebe. Gleich zu Beginn enthält das Buch einen fabelhaften Text über
Hölderlin, den englischen "Bauerndichter" John Clare und Robert
Walser. Von der empirischen Welt angewidert machen diese Menschen ihren eigenen
Rückzug zum Asyl. Ihre Entmündigung macht sie aber nicht mundtot; gegen die
Ansprüche des Marktes an den Autor erfinden sie Strategien der
Selbstverkleinerung. Hölderlin beispielsweise sprach in seinem Refugium, dem
Turm in Tübingen, nur noch selten. Er erlitt Schiffbruch, geht aber nicht
unter. Seine Rettung war diese Abkapselung. Als lebende geistige Residuen muß
man ihm und den anderen Autoren nachträglich eine kultivierte schöpferische
Höhe zugestehen.
Schnell kommt der Leser im Angesicht der geschilderten historischen Fälle das
Angewidertseins gegenüber den Totalitarismen des marktreif Gekonnten und des
eitlen Ausgereiften zu der Erkenntnis, daß es unter anderem keine andere
Lebenserfahrung für Künstler geben kann, als Überforderung und Inkompetenz
gegenüber einer Welt der minder Verständigen hinsichtlich der vielen
Spielarten von Kunst. Das Scheitern als defizienter Modus der Literatur erlangt
den Hauch einer eigenen Schönheit, sich widerspiegelnd in den Gescheiterten
selbst. Die hochwertigen Spielformen der Verweigerung sind unterschiedlich
radikal. Von Rimbauds "Merde pour la poésie" über Swinburnes
Huldigung des Alkohols - die autonome Abgebrühtheit des Neinsagens verdient
eine eigene Bewunderung, vor der die erfolgsträgen und naiven Gutmenschen wie
Habermas oder Grass mitsamt ihrer Schriftenflut zu verstummen haben. Und am Ende
wird tatsächlich von Hölderlin mehr bleiben, als von Grass.
Das vorliegende Buch zeichnet sich nicht nur durch seine Wertschätzung der
alten deutschen Rechtschreibung sondern auch durch seinen Charakter einer
besonderen Form der Fortschreibung von Horstmanns "Philosophie der
Menschenflucht" (2005) aus. Und nicht zuletzt strahlt es die Redlichkeit
des Autors Horstmann selbst aus. Sie begründet sich darin, selbst und
rechtzeitig als Folge einer reflektierten Selbsttherapie zu wissen, wann es Zeit
dafür ist, die Klappe zu halten und sich literarisch zu entwaffnen. Horstmann
schreibt über sich: "An diesem Buch ist so ein Stück
postkapitulatorischer Selbstmedikation. Es hat seinen Zweck erfüllt. Humpelnd
trete ich zurück, trete ich weg in die lückenhafte (...) Reihe derer, die
gelernt haben, sich abzuschreiben."
Fazit
Eines der wenigen Bücher von aufrichtigem Gang und einem ebensolchen Abgang!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 02. Januar 2010 2010-01-02 11:56:05