Der Bus fuhr durch Orte, deren Namen das Mädchen mit der Kappe noch nie gehört
hatte. Sicher fingen die Postleitzahlen dieser Käffer alle mit einer 0 an. Die
Leute im Bus glotzten - kein Wunder, hier passierte sonst wohl nichts. Franka
ist aus Richtung Berlin unterwegs nach Waldburgen. Sie soll gemeinsam mit
anderen Jugendlichen bei den Kämpfs in einem Wohnprojekt leben. Pflegeeltern,
Kinder aus schwierigen Verhältnissen - bereits in den ersten Szenen deuten
bedrohlich wirkende Bilder, die beim Lesen im Kopf entstehen, auf ein
Problembuch für Jugendliche hin. Doch Franka ist keine Person, die sich mit
Etiketten versehen lässt. Die 14-Jährige spielt bewusst mit den Erwartungen
anderer, was als weiblich oder männlich anzusehen ist. Wird von allen ein
Mädchen als neue Bewohnerin für Haus Eulenruh erwartet, kleidet Franka sich
eben mal als Junge.
Die Kämpfs betreuen im sächsischen Waldburgen sieben Kinder, die alle sorgsam
schlimme Erinnerungen in sich verschließen. Die Kinder aus dem Haus Eulenruh
tragen im Dorf ein Etikett, ein Stigma. Man weiß ja, wie "solche"
sind, darüber sind sich viele Dorfbewohner einig. Hier muß man damit leben,
angestarrt zu werden; etwas das Franka nicht ausstehen kann. Die durchtriebenen
Zwillinge Ann und Lizzy, Ricardo, der alle Träume seiner Mutter in seinem Namen
trägt, Matthias, dem es völlig genügt, dass es Ameisen in seinen virtuellen
Welten gibt, - und die beiden Kleinen, die nicht sprechen. Auch Franka muss
Schlimmes hinter sich haben, wenn sie in ein besonderes Wohnprojekt vermittelt
wird. Das Mädchen, dessen ganzes Leben in einer kleinen Reisetasche Platz
findet, gewährt den Lesern in nur wenigen Momenten Einblick in die "Sache
mit Martina", die Anlass für Frankas Umzug in das kleine Dorf war. Wer
schon in so vielen Schulklassen war wie Franka, kennt das Prinzip Clique. Die
Neue aus Berlin wahrt Distanz, beobachtet und zeigt dabei ihr messerscharfes,
überaus realistisches Urteilsvermögen über andere Menschen. Mädchen wie
Franka wissen genau, wie verletzbar sie ihre persönliche Geschichte macht, und
haben immer noch einen Trumpf parat.
Aus Frankas Zimmerfenster im Haus Eulenruh fällt der Blick auf das Unland, eine
rauchgeschwärzte Ruine, die sich hinter einem Elektrozaun verbirgt. Wie kann
hinter einem solchen Zaun kein Geheimnis sein, fragt sich Franka, während sie
aus dem Fenster nachts Nachbar Siemann beobachtet, der gerade sein Auto belädt.
Außerhalb von Haus Eulenruh drohen unheimliche Schatten, der Wald, ein dunkler
Tümpel. Man braucht noch nicht einmal so panisch auf Insekten zu reagieren wie
Vera, um sich hier zu gruseln. Die Dorfbewohner scheinen geschlossen ein
Geheimnis zu hüten, das sie vor den neugierigen Augen der Eulenruh-Bewohner
sorgsam zu verbergen suchen. Klar, dass es für Franka, Ricardo und die
Zwillinge Ehrensache ist, dem Geheimnis des düsteren Unland genauer auf den
Grund zu gehen.
Antje Wagner legt für ihre Leser Köder aus, führt sie mit kurzen,
beunruhigenden Einwürfen immer wieder auf Irrwege und spielt dabei mit
vorgefassten Meinungen. Bosen der Förster, ist so eine verblüffende
Wagnersche Figur - völlig anders als man sich einen Förster vorgestellt hat.
Was sich "hinter dem Zaun" verbergen könnte, scheint plausibel - und
doch könnte alles ganz anders sein. Das düstere Geheimnis enthüllt die
Autorin allmählich in kleinsten Dosen; seine Auflösung wird nicht jedem Leser
gefallen. Absolut begeistert bin ich von der empfindsamen, tatkräftigen
Hauptfigur Franka und deren schrägem Humor. Frankas Auseinandersetzung mit
ihrem Körper und ihrer Rolle als Frau schildert Antje Wagner mit
beeindruckender Diskretion. Die Autorin versteht sich in Kinder einzufühlen,
die sich niemandem mehr öffnen, weil sie in ihrem Leben zu selten verlässliche
Beziehungen erfahren haben. Deutlich wird diese Eigenschaft hin und her
geschobener Kinder in Frankas Urteil über ihre Pflegemutter. Wer Franka
zuhört, könnte annehmen, Franka sei die Erwachsene und Vera die Jugendliche;
eine Perspektive charakteristisch für Kinder, die zu früh ohne elterliche
Fürsorge aufwachsen mussten. Die Beziehungen zwischen den traumatisierten
Jugendlichen, die sich gegenseitig genauestens beobachten, eröffnet Wagner
ihren Lesern angenehm unaufdringlich. Traumatische Erlebnisse, die die
Jugendlichen ins Haus Eulenruh geführt haben, bleiben dabei dezent im
Hintergrund und lassen den Blick frei auf die Gegenwart.
Fazit
In "Unland" lässt Antje Wagner ihre jugendlichen Helden ein Abenteuer
mit unerwartetem Ausgang direkt vor der eigenen Haustür erleben. Die Autorin
versteht es, ihre Leser selbst in alltäglichen Szenen mit unerwarteten
Wendungen zu verblüffen und beeindruckt mit ihrem Einfühlungsvermögen in
Kinder, die nicht in einer Familie aufwachsen können. Auf weitere Jugendbücher
der Autorin kann man also gespannt sein.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 29. November 2009 2009-11-29 13:00:32