Der Mensch definiert, wer er ist, indem er den Ort bestimmt, von dem aus er
spricht: Seinen Ort im Stammbaum, im gesellschaftlichen Raum, in der Geographie
der sozialen Stellungen und Funktionen, in seinen engen Beziehungen zu den ihm
Nahestehenden und ganz entscheidend auch im Raum der moralischen und
spirituellen Orientierung, in dem er die für sich wichtigsten Beziehungen durch
das Leben selbst herstellt. Befürworter dieser kommunitaristischen Auffassung,
maßeblich vertreten durch den Philosophen Charles Taylor, werden schnell zu dem
Schluß kommen, daß eine Gesellschaft von Selbsterfüllern, deren
Zugehörigkeiten in immer höherem Maße als widerrufbar angesehen werden,
außerstande ist, die zur öffentlichen Freiheit erforderliche starke
Identifikation mit der politischen Gemeinschaft oder mit der eigenen Kultur zu
tragen. Ganz klar: Es geht mal wieder um die Frage der eigenen Identität und
der eigenen Kultur, für die heute mehr denn je klare Antworten gefunden werden
müssen.
Der Philosoph Bernard Willms betonte deshalb die Identität als Übereinstimmung
mit sich selbst in Erkenntnis und Willen. Identität ist für ihn aber nicht
abstrakt, sondern konkret auf der Zeitlinie, d.h. in der Geschichte zu leisten.
Diese Identifizierung müsse als Aufbau, nicht als Destruktion des nationalen
Selbstbewußtseins vor sich gehen. Sie müsse im klaren Bewußtsein der eigenen
(politischen, sozialen, philosophischen) Kultur erfolgen. Merlin Donalds
brillantes Buch widerlegt die vorherrschenden Theorien derjenigen
Naturwissenschaftler und Diskurs-Philosophen, die das menschliche Bewußtsein
als Abfallprodukt der Evolution abtun oder die identitätsstiftende Rolle der
eigenen Kultur verneinen. Für ihn sind es gerade die Kultur und das neuronale
System, die das menschliche Bewußtsein zu dem gemacht haben, was es ist. Genau
dieser hybride Geist macht den evolutionären Vorsprung des Menschen aus. Von
den Common-Sense-Theorien, welche die Bedeutung der eigenen Kultur für eine
klare Identitätsstiftung reduzieren, dürfe man keine Lösungen erwarten. Der
Geist des Menschen habe einen klaren kollektiven Gegenpol, der Menschen, Völker
und Länder eindeutig und je verschieden prägt: die Kultur. Folgerichtig
definiert der Autor den Menschen als die einzige Gattung auf Erden, deren
Individuen ihre Identität aus einem kollektiven Prozess schöpfen. So beruhen
die menschliche Einzigartigkeit und die seines Geistes nicht auf biologischer
Ausstattung, sondern auf der Fähigkeit, Kulturen zu errichten und sie als
prägenden Teil ihrer selbst zu verteidigen.
Als Beleg führt Donald die Frage an, wie es sonst zu erklären sei, daß unser
Gehirn dem anderer Primaten so stark ähnelt und ihm doch so dramatisch
überlegen ist? Der Autor zeigt die Vielschichtigkeit des Bewußtseins auf und
erläutert, wie es sich auf der Grundlage der Kultur entwickeln konnte. Zugleich
rücken damit die Grundfragen politischer Philosophie ins Zentrum und werden auf
einen Dualismus zugespitzt, der ganz klar eine Entscheidung fordert: Es geht um
die Gegenüberstellung von Liberalismus (Individualismus) und Kommunitarismus
(Gemeinschaftsdenken). Das paradoxe des menschlichen Daseins bestehe darin, daß
der Mensch einerseits Individualist ist und andererseits, um die Individualität
zu entfalten, auf die eigene ihn prägende Kultur als Gemeinschaft angewiesen
ist. Das Fundament bleibt damit vorrangig die eigene Kultur. Alles andere folgt
ihr nach. Kurz: Ein klares Plädoyer für ein freies reflexives Verhältnis zur
eigenen Kultur, Tradition und "Community", die sich in der gelebten
Praxis konstituiert. Für den Autor ist der menschliche Geist ein hybrides
Produkt, in dem Materie (Gehirn) mit einem unsichtbaren symbolischen Gewebe
(Kultur) verwoben ist, woraus ein weit verzweigtes kognitives Netzwerk entsteht.
Allein dieser hybride Charakter unseres Geistes habe es der menschlichen Spezies
ermöglicht, die Grenzen zu überschreiten, denen die übrigen Säugetiere
unterworfen sind. Bewußtsein und Kultur machen den Menschen zum Menschen.
Interessant sind dabei die Unterscheidung der Entwicklungsstufen des
Bewußtseins: Die erste Stufe stellt dabei die bewußte Sinneswahrnehmung bei
Vögeln und Säugetieren dar, wobei die zweite Stufe bereits die Perzeption von
Zeitlichkeit durch einfache Gedächtnisprozesse voraussetzt. Über die dritte
und abstrakteste Stufe verfügen nur Primaten mit höheren
Gedächtnisleistungen, Selbstwahrnehmung und Metakognition. Der Mensch ist ohne
Kultur nicht vollständig und lebt in Symbiose mit ihr. Sie formt den Geist wie
ein Töpfer ein Stück Ton. Durch die in kulturellen Gebilden gewachsene Sprache
und den entstandenen Symbolismus (u.a. Schrift) ist eine Auslagerung von
individuellem Wissen möglich geworden, die zu einer Veränderung des
Bewußtseins geführt hat. Donald macht hier deutlich, wie sich Kultur und
menschliches Bewußtsein gegenseitig bedingen und miteinander in Co-Evolution
seit ca. 40.000 Jahren gewachsen sind. Metakognition bedeutet hier zugleich ein
Bewußtsein von historischer Überlieferung der eigenen Geschichte und die klare
Geschichtsschreibung als Mittel der gesunden Selbstvergewisserung.
Fazit
Donalds Theorie der Bewußtseinsentstehung weist einen sehr ergiebigen Weg aus
den sterilen Debatten zwischen Neuro- und Geisteswissenschaften. Die Betonung
liegt dabei auf der Überwindung des Individualbewußtseins hin zu einer
Kollektivität des Bewußtseins, wobei Letzteres Kulturleistungen überhaupt
erst ermöglicht. Dies war und ist von besonderer Bedeutung für die politische
Philosophie. So wies zuletzt der Sozialphilosoph Johannes Heinrichs darauf hin,
daß gerade nationale Identität heute bewußter als früher von der kulturellen
Systemebene her zu definieren ist. Sonst wären die europäischen Nationen bald
mit Recht nichts anderes als Untergliederungen eines europäischen
Bundesstaates. Eine Selbstaufgabe der deutschen Kultur wäre deshalb heute weder
mehrheitsfähig noch irgendwie wünschenswert. Auf sie führt aber das übliche,
unklare Multi-Kulti-Gerede hinaus, gegen das sich nun auch das vorliegende Buch
ins Feld führen ließe. Die Unterscheidung von gastgebender (jeweils primärer)
Kultur und Gastkulturen (jeweils sekundären Kulturen) stellt die Voraussetzung
dar, unter der kulturelle Identität bewahrt werden kann. Mangelnde
Unterscheidungsfähigkeit ist derzeit das größte Hindernis internationaler
Gastfreundschaft. In dieser Gedankenlosigkeit kommen unzählige
Multikulti-Redner mit so genannten "rassistischen" Äußerungen
insgeheim überein. Bei Merlin Donalds "Triumph des Bewusstseins"
handelt es sich um ein Werk, das einen perspektivisch neuen Baustein auf dem
Feld der Bewußtseinsforschung und damit für die Bedeutung der Kultur in allen
Bereichen liefert.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 18. November 2009 2009-11-18 11:14:56