T. S. hätte niemals in ein blaues Notizbuch gezeichnet; denn seine blauen
Notizbücher sind nur für Listen gedacht. Der 12-Jährige, der in den Pioneer
Mountains in der Nähe von Butte/Montana auf einer Farm aufwächst, stellt seine
Wahrnehmungen in Form von Karten und Diagrammen dar. Möglich, dass Tecumseh
Sparrow schon mit einer komplett vermessenen und kartierten Welt im Kopf zur
Welt gekommen ist. Der jugendliche Kartograph T. S. hat seinen Arbeitsplatz im
Kinderzimmer akribisch geordnet; die Systematik seiner Aufzeichnungen wird durch
die drei Grundfarben seiner Notizbücher vorgegeben. T. S. zeigt sich gefangen
von absurden Ängsten, die er durch Kartierung zu kontrollieren versucht. Mit
Ausnahme der Schwester Gracie sind in dieser Familie alle etwas sonderbar. Der
Vater (auch er heißt Tecumseh wie schon sein Großvater) ist stets gerade auf
dem Weg zu einer wichtigen Arbeit auf der Farm. Die Mutter, genannt "Dr.
Claire", gibt sich seit 20 Jahren Träumen an eine wichtige Entdeckung als
Käferkundlerin hin und schwebt in ihrer eigenen Welt. Tecumsehs Aufzeichnungen
verraten, dass sein jüngerer Bruder Layton bei einem tragischen Unfall ums
Leben kam, über den in der Familie nicht gesprochen wird. Tecumsehs Zeichnungen
bieten ihm offenbar die einzige Möglichkeit, den Tod seines Bruders
auszudrücken.
Vater Spivet zog sich nach dem Tod seines Lieblingssohnes Layton völlig zurück
und hat sich inzwischen damit abgefunden, dass T. S. für die Farmarbeit nicht
zu gebrauchen ist. Zur Karten-Besessenheit seines älteren Sohnes findet der
Vater keinen Zugang. Die Spivets reden kaum miteinander, jeder ist in seiner
eigenen Welt gefangen. Die deutlich zu spürende Sprachlosigkeit ist in der
Beziehung zwischen Mutter und Sohn jedoch schwer nachzuvollziehen. Schließlich
spielen exakte Definitionen und die Darstellung feiner Unterschiede, wie T. S.
sie als Zeichner perfekt beherrscht, in Claires Forschungstätigkeit eine
wichtige Rolle.
Ein Anruf des Smithonian Instituts in Washington (einem Verbund aus 20 Museen)
stellt von einer Minute zur anderen Tecumsehs geordnete Welt auf den Kopf.
Tecumseh wird in die Hauptstadt eingeladen, weil seine von seinem väterlichen
Freund und Mentor Dr. Yorn eingereichte Käferzeichnung preisgekrönt wurde.
Niemand im Preiskomitee ahnt zum Zeitpunkt der Preisvergabe, dass Tecumseh noch
ein Kind ist. Während T. S. plant, auf welchem Weg er nach Washington reisen
wird, ohne dass jemand davon erfährt, entdecken Larsens Leser, dass der Junge
mit der Inselbegabung offenbar ein verborgenes zweites Leben als Illustrator
wissenschaftlicher Zeitschriftenartikel geführt hat.
Zugang zur sonderbaren Welt des T. S. finden Reif Larsens Leser durch
Randbemerkungen neben dem Text, zu denen man wie auf einer Spaß-Rallye mit
Pfeilen geleitet wird. Karten, Diagramme zu Geräuschen und Zeichnungen von
Erinnerungsstücken vermitteln in Sepiafarben den Charme alter Schatzkarten.
Schienen und Telefonkabel begleiten den Text, lassen T. S. Fortbewegung zur
Linie werden und geben den Ereignissen eine zusätzliche Dimension. Die von Ben
Gibson und Reif Larsen mit feinem Strich gezeichneten Illustrationen sind ein so
fester Bestandteil der Handlung, dass ich auf Seiten ohne Anmerkungen das
Gefühl hatte, dort fehle etwas Wichtiges.
Larsens Charakterisierung des zynisch-altklugen Tecumseh und seiner
außergewöhnlichen Begabung könnte an ein Wunderkind denken lassen, das sich
von den Eltern unverstanden fühlt. Doch der Begriff Wunderkind greift m. E.
für Larsens Roman zu kurz; weil der Autor seine Hauptfigur stets als Kind und
als Familienmitglied im Blick behält. T. S. zeigt sich in zwanghaften Ritualen
verstrickt, versteht jedoch in jeder Situation die Vorzüge moderner
Technologien zu nutzen. In der Familie Spivet, die offenbar allein von der
Tochter Gracie zusammen gehalten wird, zeigt der erst 28-jährige Autor
beispielhaft, wie normale Entwicklungen (das Heranwachsen der Kinder) und
tragische Ereignisse (der Tod eines Kindes) die Beziehungen innerhalb einer
Familie aus dem Gleichgewicht bringen können.
Fazit
"Die Karte meiner Träume" erweist sich als fesselnder
Pubertätsroman, dessen Spannungsbogen im mittleren Teil des Buches während T.
S. Gedanken an seine Großmutter Emma deutlich durchhängt. In Emma konnte ich
mich erheblich schlechter hinein versetzen als in T. S. Larsens verschwenderisch
illustrierte Geschichte eines unverstandenen Jugendlichen richtet sich an Leser
aller Altersgruppen, die Tecumsehs außergewöhnlichen Interessen gegenüber
aufgeschlossen sind.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 25. Oktober 2009 2009-10-25 11:45:13