Der Schriftsteller Fritz Mauthner ist heute hauptsächlich durch seinen
sprachkritischen Skeptizismus bekannt, der mit einer evolutionistischen
Auffassung des Erkennens und Seelenlebens verbunden war. Die Sprache ist für
ihn ein sozial brauchbares Mitteilungsmittel und ein Mittel des künstlerischen
Ausdrucks, nicht aber ein Erkenntnismittel. Vielmehr verfälsche sie die
Erkenntnis durch Begriffe und deren Begriffsinhalte. Das höchste Ziel wäre
für Mauthner die Befreiung von der Sprache - und zwar als reine Schauung der
Wirklichkeit. Diese dekonstruierende Haltung zur Sprache hielt den Sohn eines
deutsch-jüdischen Webereibesitzers aber nicht davon ab, selbst freier
Schriftsteller - ein Meister der Sprache - zu werden. Er arbeitete als
Kulturkritiker und übernahm 1895 die Redaktion des Berliner Tageblattes.
Mit dem vorliegenden Werk hat der Superbia-Verlag eine der bedeutendsten
Schriften Mauthners neu aufgelegt. Es handelt sich um einen historischen Roman
über Hypatia, die Tochter des Mathematikers und Philosophen Theon von
Alexandria, der vor seiner Tochter selbst als Gelehrter am Museion von
Alexandria tätig war. Der Neuzeit ist Hypatia wegen ihrer grausamen Ermordung
in Erinnerung geblieben. Sie wurde im Jahr 415 von fanatisierten Christen
getötet.
Hypatia war eine hochberühmte heidnische Philosophin im Alexandria des 5.
Jahrhunderts und eine Frau in akademischen Würden. Sie begann schon früh, in
ihrem Kopfe die philosophischen Gedankengebäude wie Mühlsteine übereinander
zu stapeln. Sie stand allein und bewußt der andrängenden Kirchengewalt
gegenüber und schien mit ihrem aufrechten Wesen als Denkerin, aber auch rein
physiognomisch - sie galt als sehr schön -, den schönheitsfeindlichen
Vorstellungen der Kirche zu widersprechen.
In dem Roman Mauthners wird Hypatia vor allem durch eine starke Liebe zu den
Dichtern, zur griechischen Philosophie und zu den großen Taten der menschlichen
Vernunft charakterisiert. Das akademische Publikum der Frau Professorin wurde
aber recht schnell kritisch und veranstaltete in ihren Vorlesungen Störungen.
Ihr Streben nach dem Urgrund allen Wissens mußte dem fanatischen Christentum
der damaligen Zeit ein Dorn im Auge sein. Konkret läßt Mauthner der
Überlieferung folgend Hypatia etwa sagen: "Jesus Christus sei der edelste
Mensch aller Menschen gewesen sein, doch die christliche Kirche lehre gar nicht
dasselbe, wie ihr erster Stifter. Die Bischöfe seien die Geschäftsführer der
neuen Partei geworden, seien ohne jede Religion, und die fanatischen Mönche
seien unwissende Schwärmer."
Es fand in einer von christlicher Denunziation geprägten öffentlichen Sphäre
erheblichen Anstoß, daß Hypatia ihre Studien immer weiter auf Philosophie,
Astronomie und Musik ausdehnte, um zunehmend einen eigenen Kreis von Schülern
um sich zu sammeln, den sie zunächst in ihrem Hause unterwies. Vielleicht hat
es sich dabei um eine Art philosophisch-literarischen Salon gehandelt, wie wir
ihn im 18. Jahrhundert wiederfinden. Interessant sind dazu die Ausführungen im
vorliegenden Roman. Es wird überdies vielfach erwähnt, daß Hypatia
ausgezeichnete Beziehungen zu den führenden Politikern Alexandrias,
insbesondere zu dem römischen Präfekten Orestes unterhielt. Ihr Ansehen in
Alexandria soll gewaltig gewesen sein.
Für Hypatia stand schließlich eine Zeit bevor, in der der Christenglaube die
alte Religion sein werde, wo Priester glauben würden, mit ihnen gehe auch die
Menschheit zugrunde. So dauerte es nicht lange, bis aufgebrachte Einsiedler und
Mönche, deren Haßattacken sich gleichermaßen gegen heidnische Philosophie und
gegen Abtrünnige aus den eigenen Reihen sowie gegen Juden richteten, die
Philosophin auf offener Straße ermordeten.
In der spannenden Darstellung Mauthners wird sie mit einem Schwert erschlagen,
blieb verletzt von Blut durchtränkt auf der Straße liegen, bis ein greiser
Christ ihr mit einem Messer das Herz zerfetzte. Die umstehenden Mönche
schlossen einen verschworenen Kreis um die Leiche. Anschließend rissen sie ihr
das Gewandt Stück für Stück vom Leibe, bis das blutige Kleid in Stücken
verteilt war und in reiner Schönheit der nackte Leib einer Frau dort lag, die
ihrer Zeit denkend weit voraus war. Anschließend wurde ihr Leichnam auf dem
Scheiterhaufen verbrannt. Dieses Handeln billigte der Erzbischof Kyrillos von
Alexandria. Die Schüler Hypatias wurden später von den Mönchen weiter am
Leben bedroht und wanderten in das philosophisch und religiös viel fruchtbarere
Indien aus. So mag es sein, daß einige der Lehren Hypatias in den indischen
Lehren erhalten blieben und später nach Europa zurückkehrten.
Fritz Mauthers Sympathien - dies merkt man dem an historischen Tatsachen
orientierten Ton des Autors an - liegen in dem historischen Roman aus dem Jahre
1892 eindeutig auf Seiten der heidnischen Philosophin. So wurde der Autor auch
von den damaligen Zentrumsblättern in Deutschland denunziert und erregte in
zahlreichen Karnevalssitzungen ein stetes Murren unter der katholischen
Fraktion.
Fazit
Dennoch - der Roman überzeugt neben seinem einmaligen historischen Thema, das
an Sokrates denken läßt, vor allem durch den konstruktiven Impetus. Diesen
erhält das Buch, indem Mauthner als aufgeklärter und liberaler Jude in den
Beziehungen der vier Freunde von Hypatia Vorstellungen eines friedlichen
Nebeneinanders von griechischem und germanischem Heidentum und einem
authentischen Christentum und Judentum entwickelt. Das ist - mehr noch als bei
Lessings Ringparabel - etwas ganz Besonderes!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 09. Oktober 2009 2009-10-09 18:18:15