Nichts wird sich ändern, hatte Moiras Mutter optimistisch behauptet. Moira, die
begabte Schülerin mit der auffälligen roten Plastikbrille, war die erste in
ihrer Familie, die ein Stipendium für eine weiterführende Schule erhielt.
Moira kann zwischen vier Eliteschulen wählen und entscheidet sich für die am
weitesten entfernte Schule in Norfolk. Welch entscheidende Veränderung der
Internatsaufenthalt für sie alle bedeuten würde, konnte sich zu dem Zeitpunkt
niemand in Moiras Familie vorstellen. Obwohl Norfolk von der Nordsee umgeben
ist, vermisste Moira zuerst die gewohnten Geräusche, die sie aus ihrem
Heimatort Stackpole an der felsigen englischen Atlantikküste gewohnt war. Kurz
vor dem Ende ihrer Schulzeit trifft Moira auf Ray, der kurz darauf auf Weltreise
geht und ihr von unterwegs regelmäßig schreibt. Nur um Rays kostbare Briefe,
die exotische Dinge ahnen lassen, werden Moiras Gedanken zukünftig kreisen.
Diese Briefe sind für Moiras Mitschülerinnen ein weiterer Anlass, sie
auszuschließen und zu verletzen.
Die erwachsene Moira treffen wir am Krankenbett ihrer jüngeren Schwester Amy,
die nach einem Sturz seit Jahren im Koma liegt. Amy, auf die Moira so
eifersüchtig war, dass sie während ihrer Schulzeit am liebsten gar nicht mehr
nach Hause gekommen wäre. Moira blieb damals lieber als einzige Schülerin im
menschenleeren Internat zurück, als diesem winzigen Wurm, den ihre Eltern so
lange ersehnt hatten, gegenüber zu treten. Nun erzählt Moira der regungslosen
Amy ihre Lebensgeschichte. Als einzige Stipendiatin und ständig mürrisch
wirkende Schülerin war Moira im Internat von Anfang an die Idealbesetzung für
die Rolle der Außenseiterin. Susan Fletcher lässt uns mit Amys Geschichte in
eine klassische Aufsteigerbiografie blicken. Moira weiß mit ihren Talenten noch
nichts anzufangen, sie hat keine Pläne, was sie später einmal tun möchte und
auch ihre flippige Tante Til, die als Schauspielerin in London lebt, kann der
jungen Frau nicht den Rückhalt geben, den sie braucht. Moira zieht sich in sich
selbst zurück, lebt nur für ihre naturwissenschaftlichen Interessen und ihre
Lehrbücher. Selbst bei einem ihrer wenigen Besuche "Zuhause" bleibt
sie auf einsamen Spaziergängen an schroffen Felsküsten entlang allein. Wasser
ist das Element, an dem Moira sich beim winterlichen Schwimmen im Meer in einem
unerbittlichen Kampf gegen sich selbst aufarbeitet. Das Meer wird im weiteren
Verlauf der Handlung Symbol für jene Moira verschlossene Welt sein, die auf der
anderen Seite des Meeres liegt. Moiras Monolog am Krankenbett lässt uns tief
in ihre abweisende Persönlichkeit blicken, ihre lebenslange Unsicherheit und
ihre Schuldgefühle gegenüber der von ihr abgelehnten jüngeren Schwester.
Viele Fragen, warum Moira sich in ihrem Leben so und nicht anders entschieden
hat, werden am Ende offen bleiben.
Fazit
Susan Fletcher legt mit "Austernfischer" einen feinfühlig
beobachteten Entwicklungsroman vor, in dem sie die Innenwelt der Hauptfigur
Moira und deren enge Beziehung zur Küste und zum Meer mit beeindruckender Kraft
verbindet.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 09. Oktober 2009 2009-10-09 11:09:01