Wenn man so unbedarft an ein Buch herangegangen ist, dass man nicht einmal den
Klappentext gelesen hat, könnte zunächst der Eindruck einstehen, der Roman
würde in den 70er-Jahren spielen.
Eine Familie ist von Russland in ein kleines litauisches Dorf gezogen, seit dem
Tod des Vaters lebt die russisch-orthodoxe, streng gläubige Mutter mit ihren
beiden Töchtern Dorte und Vera in großer Armut. Mehr geduldet als geliebt,
haben sie Unterschlupf bei dem jüdischen Onkel des verstorbenen Vaters
gefunden. Ob sie bleiben dürfen, ist allerdings ungewiss.
Durch Nicolai, den Sohn des Bäckers, lernt die fünfzehnjährige Dorte ein
Mädchen namens Nadja kennen, die ihr vom Leben in Stockholm vorschwärmt und
vorgibt, ihr dort einen Job als Kellnerin besorgen zu können. Die Verlockung,
Geld verdienen - und auf diese Weise ihre Mutter unterstützen - zu können, ist
groß, und nach längerem Zögern lässt Dorte sich darauf ein, heimlich nach
Schweden zu reisen. "Hier musst du drei oder vier Jahre arbeiten, um so
viel zu verdienen. Nach drei Monaten bist du reich und kannst nach Hause fahren
und deiner Mutter ein Haus kaufen", sagt Nadia, die wissentlich oder
unwissentlich als Lockvogel fungiert.
Die beiden Männer, die Dorte mit einem kleinen grauen Audi abholen, sind dem
jungen Mädchen vom ersten Augenblick an wenig geheuer. Sie will aussteigen,
zumal Nadia nicht - wie versprochen - im Auto sitzt, aber ihre Gefangenschaft
hat bereits begonnen. Richtige Angst bekommt sie, als sie ihr erstes Ziel
erreichen: Ein Haus, in dem bereits mehrere Männer auf sie warten. Außer Dorte
sind zwei weitere Mädchen anwesend - und die nächsten zwanzig Seiten sind für
empfindliche Gemüter ganz und gar ungeeignet, weil sie von einer
ungeheuerlichen Brutalität sind. Von nun an wird der Leser Dorte auf ihrer
entsetzlichen Odyssee begleiten. Die skrupellosen Mädchenhändler verkaufen die
durch die vielen Vergewaltigungen massiv verletzte Fünfzehnjährige schnell
weiter.
Ihr "neuer Besitzer" agiert nicht ganz so brutal, setzt aber Dortes
Jugend und Attraktivität gezielt ein, um viel Geld mit ihr zu verdienen. Sie
wird in einem Apartment in Norwegen eingesperrt und muss von nun an vielen
Freiern zu Diensten sein. Sie schämt sich zutiefst - und Herbjørg Wassmo
gelingt es, den Leser auf eine einzigartige Weise an Dortes einsamen, traurigen
und zutiefst bedrückenden Schicksal teilhaben zu lassen. Nach einer Weile
fliegt der Mädchenhändler Tom auf. Dorte flieht, aber ihr fehlen die 7000 Euro
für die Heimreise, und es ist wiederum die Scham, die verhindert, dass sie sich
Hilfe sucht. Hunger und Hilflosigkeit führen dazu, dass sie sich erneut
prostituieren muss. Per Zufall gerät sie an Artur, dem sie wenig später
aufgrund ihrer Schwangerschaft nach Oslo folgt. Aber die kleine Hoffnung, dass
nun alles besser wird, ist mehr als trügerisch...
Die schrecklichen Erlebnisse des jungen Mädchens mit Freiern, ihre Begegnungen
mit anderen Prostituierten und Mädchenhändlern beschreibt Herbjørg Wassmo mit
massiver Eindringlichkeit - und von dieser negativen Anziehungskraft geht ein
gewisser Sog aus, der es schwer macht, den Roman aus der Hand zu legen. Ein
wenig durchatmen kann der Leser eigentlich nur in den - im Verlauf der
Geschichte zahlreicher werdenden - Passagen, in denen Dorte sich an ihre
Vergangenheit in Russland und Litauen erinnert, in denen sie träumt oder im
Dialog mit ihrem verstorbenen Vater steht.
Fazit
Dieser Roman erzählt eine "knüppelharte", sehr intensive - und sehr
gute - Geschichte. Ist allerdings weder für empfindsame noch für
dünnhäutige Leser geeignet.
Vorgeschlagen von Heide John
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veröffentlicht am 23. September 2009 2009-09-23 12:41:48