Silvester in der deutschen Provinz irgendwo ganz im Westen, da würde sicher
wieder nur das Gleiche passieren wie in jedem Jahr. Tommy, Stepan, Makro und die
Icherzählerin wollen den ersten gesamtdeutschen Jahreswechsel 1989 lieber in
Berlin verbringen. Es wird der letzte Jahreswechsel sein, den man in zwei
deutschen Staaten feiern kann. Sorgfältig in einen betagten Kadett gefaltet,
schleichen die vier Freunde im gesamtdeutschen Stau Richtung Osten. Feine
Grenzlinien markieren in der Fahrgemeinschaft die Gegensätze: Studenten gegen
Azubis, Ausgemusterte gegen Wehrdienstleistende, Exfreund gegen aktuellen
Lebensabschnittsgefährten. Ziel der Fahrt ist eine für westdeutsche
Vorstellungen luxuriöse Berliner Altbauwohnung, in der der Onkel Joachim der
Erzählerin wohnt und eine Anwaltskanzlei betreibt. Hohe Räume, Doppeltüren,
Rumpelkammer, Speisekammer, eine Rotunde, in der man sich mit
"Gebäck" niederlässt, ein Vestibül und ein Konzertflügel erinnern
an den herrschaftlichen Lebensstil einer längst vergangenen Epoche. Der Besuch
aus dem Westen bestaunt den schönen Schein nur so lange, bis Joachim erklärt,
dass er Antiquitäten und Gemälde von Klienten erhielt, die seine Rechnung
nicht bezahlen konnten. Joachim hat sich durch seinen Umzug in die Hauptstadt
der familiären Kontrolle entzogen; das Getratsche seiner Verwandten konnte er
dadurch nicht zum Schweigen bringen.
Die Westbesucher möchten am "Alex" feiern; Ostberlin und die DDR
scheinen in ihren Gedanken noch "die Zone" zu sein. Ob und wo am Alex
Party sein wird, ist zunächst so unklar wie der Ort, an dem die Ostberliner
selbst Silvester feiern werden. Als Expertin mit Berlin-Besuchs-Erfahrung lotst
die Erzählerin die inzwischen auf sieben Personen angewachsene Gruppe ins
Zentrum. Am Brandenburger Tor stößt Tout-Berlin mit Sekt Ost, Sekt West und
Schampus aus Bulgarien an. In beschwingter Stimmung lassen sich vier der
West-Besucher schließlich von Norbert und Marlene, (die nach DDR-Sitte
vermutlich früh Kinder bekamen und die Eltern der jungen Besucher sein
könnten,) in eine Wohnung nach Pankow eingeladen. Die junge Leute finden ihre
nächtliche S-Bahn-Fahrt in den unbekannten Osten sehr abenteuerlich. In Pankow
wird getafelt und gezecht, bis sich die Tische biegen. Arroganz West (haben die
hier keine Mischbatterien im Bad?) trifft auf das Selbstbewusstsein Ost eines
verdienten Reisekaders im diplomatischen Dienst der DDR. Im gepflegten Pankow
sitzen sich zwei Nachkriegsgenerationen gegenüber, für die Deutschland schon
immer geteilt war, für die ein Bundeskanzler schon immer Kohl hieß. Auch der
Erzählerin, die Ostberlin als Besucherin kennen gelernt hat, ist der Osten
fremd geblieben. Mit steigendem Alkoholpegel brechen auf beiden Seiten
Existenzängste und Denkblockaden auf. Stark verkatert und um unerwartete
Einsichten reicher, kehren die vier Besucher am Neujahrstag von ihrem
gesamtdeutschen Abenteuer in den vertrauten Westen zurück.
Fazit
Andreas Platthaus entfaltet in "Freispiel" zunächst zögernd die
Beziehungen innerhalb einer Clique Zwanzigjähriger, die sich bereits kurz nach
dem Abitur aus den Augen verloren hatten. Die unterschiedlichen
Persönlichkeiten, die sich teils hinter altertümlich wirkenden Bandwurmsätzen
und zahlreichen Spitznamen verbergen, müssen beim Lesen erst frei gelegt
werden. Platthaus Momentaufnahme der Begegnung zwischen Ost und West in einer
Silvesternacht bleibt durch treffend gewählte Bilder, die das deutsch-deutsche
Fremdeln verdeutlichen, lange in Erinnerung.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 17. September 2009 2009-09-17 15:31:42