Die abgelegene Farm schien ideal für Alyson und Walker. Beide wollten der Natur
nahe sein, Walker konnte hier in Ruhe als Töpfer arbeiten, Alyson Kräuter zum
Verkauf anbauen. Der Alltag auf der Farm verläuft bald nach einer eingespielten
Routine, Walker arbeitet nachts, Alyson am Tage, so sind die beiden sich nah und
zugleich fern. Zu Beginn der 90er Jahre lebt das Paar schon einige Jahre auf der
Farm, als Alyson schwanger wird. Dass sie nun nicht mehr so schwer wie vorher
arbeiten kann, führt zu einem zunehmend gespannten Verhältnis der beiden. Ein
weiterer Grund für die Krise zwischen Alyson und Walker könnte sein, dass der
eigenbrötlerische Walker das gemeinsame Kind sehr viel weniger ersehnt als
Alyson.
Da bis zum errechneten Geburtstermin noch eine Weile Zeit ist, nimmt Walker für
drei Monate Arbeit als Holzfäller an. Alyson ist allein auf der Farm, kann ihre
nächsten Nachbarn jedoch per Telefon erreichen. Für Alyson ist es ungewohnt,
dass sie nach langer Zeit wieder Muße dafür hat, an ihre eigene Kindheit
zurückzudenken. Immer wieder hat die junge Frau verstörende Alpträume von
einem Baby, so dass die Leser bald vermuten, dass Alysons Schwangerschaft nicht
so glücklich verlaufen wird wie erhofft.
Als Alyson in ihrer Anfangszeit auf der Farm ab und zu Gegenstände aus
vergangenen Zeiten ausgrub, hatte sie nicht wahrhaben wollen, dass genau an
dieser Stelle schon früher Siedler lebten. Erst als der Postbote von einer Frau
erzählt, die hier früher lebte und Puppen anfertigte, realisiert Alyson, dass
auf ihrem Grundstück Spuren einer Farm aus dem 19. Jahrhundert zu finden sind.
Die MacBaynes waren 1859 aus Schottland nach Kanada eingewandert, als die
Heringsschwärme ausblieben und Vater MacBayne in Europa keine Zukunft mehr für
sich und seine Familie sah. Als das Schiff vor Kanadas Ostküste bei Grosse Île
anlegt, darf Vater MacBayne wegen einer Erkrankung nicht weiterreisen. Mutter
MacBayne, die Söhne und die Tochter Margaret bewerben sich nahe des 45.
Breitengrades für eine Parzelle zum Besiedeln. Sie müssen den Wald roden, ein
Haus bauen und für eine festgelegte Frist das Land kultivieren, um ihre
Parzelle vom Staat überschrieben zu bekommen. In der abgelegenen Gegend ackern
die Brüder mehrere Jahre lang von früh bis spät, bis sie einsehen müssen,
dass sie auf dem schlechtem Boden keine Zukunftsaussichten haben. Nach dem
frühen Tod der Mutter arbeitet Margaret neben ihren Brüdern wie ein Mann.
Margarets Rolle als Pionierin ist selbst in ihrer Zeit ungewöhnlich; sie muss
sich erst Männerkleidung besorgen, damit sie sich beim Holzfällen nicht in
ihren Rocken verfängt. Auch Margaret ist oft monatelang allein, während ihre
Brüder Arbeit als Holzfäller annehmen. Die abergläubische Margaret hat den
Kopf voller Hexen und Kobolde - möglich, dass sie deshalb indianischen Mythen
gegenüber sehr empfänglich ist. In ihrer Familie wird überliefert, dass eine
Vorfahrin der MacBaynes in Europa als Hexe verurteilt worden war.
Die Verbindung zwischen Alyson aus dem Jahr 1990 und Margaret aus dem Jahr 1859
knüpft Merilyn Simonds durch ein Kochbuch, das Alyson sorgfältig verpackt und
verborgen in einer Mauerritze der Reste der alten Farm findet. Auf den
unbeschriebenen Seiten des Buches hat Margaret in winziger Schrift ihr
Kräuterwissen notiert. Alyson kann zwar nicht den gesamten Text entziffern,
doch sie hat von nun an den Eindruck, sich in Margaret MacBaynes Garten zu
bewegen. Alyson stellt die Art ihres Kräuteranbaus radikal um. Gezielt sucht
sie die Pflanzen, die schon Margaret nutzte, hegt und pflegt sie, um Margarets
Rezepturen auszuprobieren. Dieser radikale Schnitt ist für Alyson ein Weg, um
mit ihrer Trauer und den Verletzungen aus ihrer Beziehung zu Walker umzugehen
(von der Vorgeschichte dieser Trauer soll nicht zu viel verraten werden).
Überraschend muss sich Alyson traumatischen Erinnerungen stellen, die weit in
die Zeit vor ihrer Beziehung zu Walker zurückreichen.
Fazit
Die Verbindung zweier Schicksale durch einen gemeinsamen Ort hat schon viele
Autoren zu Romanen inspiriert. Merilyn Simonds verknüpft die Lebensgeschichten
zweier kanadischer Frauen, die ein besonders naturnahes Leben führten: eine
ungewöhnliche Pionierin des 19. Jahrhunderts und eine Frau unserer Zeit. Beide
Frauen arbeiten mit den Händen, pflanzen, pflegen, brauen Arzneimittel. Die
Autorin spinnt aus Überlieferungen der indianischen Ureinwohner, Anekdoten
kanadischer Pioniere und Geschichten über ihre eigene Ururgrossmutter einen
feinen Teppich kanadischer Geschichten. Die Geduld, mit der Simonds ihre
Figuren die Natur beobachten lässt, macht ihren ersten Roman zu einem
ungewöhnlich sinnlichen Buch, das zudem tiefgründig auslotet, wie in
Vergangenheit und Gegenwart Frauen mit Trauer und Verlusten umgegangen sind.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 30. August 2009 2009-08-30 11:45:07