Paul war von Anfang an klar, dass niemand an seiner Schule gegen Roth eine
Chance hatte. Roth kam jedes Mal ungeschoren davon; seine Opfer mussten froh
sein, nicht selbst bestraft zu werden. Paul hat sich an dieser Schule vom ersten
Schultag an abgestempelt gefühlt; denn die Klasse, in die man ihn schickte,
machte klar, dass er dumm war. Als Pauls Vater hier früher zur Schule ging,
prügelten Lehrer ihre Schüler noch. Die alte Hackordnung funktioniert an der
Schule wie in alten Zeiten. Es wird nicht mehr geschlagen, sondern gespottet.
Ein paar tyrannische Lehrer demütigen ihre Schüler im Unterricht und machen
sie vor der ganzen Klasse lächerlich. Bei wem also sollte man sich über einen
wie Roth beschweren, der an der Schule offenbar unbehelligt eine eigene
Hausmacht anführt? Wenn Roths Gefolgsleute sich prügeln, hat das nichts mehr
mit den Bandenkämpfen zu tun, an die Andis Vater sich aus seiner Jugend
erinnert. Heute wird der, der verletzt am Boden liegt, zum Abschluss ins
Gesicht getreten und bepisst.
Paul hatte in der Schule bisher zu keiner Gruppe gehört. Außer der Clique um
Roth gab es ein paar unbedeutende Grüppchen und die Freaks unter Führung von
Shane, sechs Schüler, die von jeder, aber auch jeder anderen Gruppe gehasst
wurden. An dieser Schule ist es wichtiger, genau zu wissen, zu wessen Bande man
gehört, als die Gründe für Auseinandersetzungen zu kennen. Nachdem Roth im
Unterricht vor aller Augen seine Macht über Andi demonstriert hat, zeigt er
Interesse an Andi, gibt vor, ihn für intelligent zu halten. Falls Andi bei Roth
einsteigt, könnte er sich im Windschatten des Schul-Bullys sicher fühlen. Doch
Andy sympathisiert auch mit den Freaks. Er mag den Anführer Shane, würde gern
einmal mit Maddy ins Kino gehen. Heraushalten kann sich an Andis Schule niemand;
man kann nur für oder gegen Roth sein. Roth will offenbar seinen Einfluss auf
die zweite Schule im Ort ausdehnen. Roth macht sich nur selten selbst die Hände
schmutzig, für den täglichen Kleinkrieg beschäftigt er seine Anhänger. Bei
Pauls erstem Auftrag, den er für Roth ausführt, überbringt er - selbst
völlig ahnungslos - dem Anführer der Schüler der Temple Moor Schule Roths
Kriegserklärung. Eine Massenschlägerei zwischen beiden Schulen endet mit dem
Tod eines Schülers.
"Der Tag, an dem ich starb" steuert wie eine klassische Tragödie auf
die entscheidende Szene zu. Bereits im ersten Kapitel ist klar, dass es zu einer
Straftat mit einem Messer kommen wird. Das Messer scheint ein Eigenleben zu
haben, es rückt unaufhaltsam näher, verkürzt mit jedem Kapitel die Zeit bis
zur Tat. Anthony McGowans zeitloser Jugendroman stellt nicht allein Roth als
einen Soziopathen in den Mittelpunkt, der Mitschüler manipuliert und demütigt.
Nicht zu übersehen ist die Kultur des Wegsehens an Andis Schule, die das
Demütigen schwacher Schüler durch einige Lehrer als legitim erscheinen lässt.
Wichtige Verbündete in diesem Bündnis des Schweigens sind Eltern, die nichts
Genaueres darüber wissen möchten, was sich an der Schule ihrer Kinder
abspielt. Hätte Paul die Illusionen seines Vaters zerstören sollen, hätte er
ihm begreiflich machen können, dass Schüler seiner Schule sich heutzutage
nicht mehr sportlich prügeln, nach einer Prügelei nicht mehr wie sein Vater
früher auf eigenen Füßen nach Hause gehen können? Es geht McGowan nicht
darum, Eltern oder elektronischen Medien die Verantwortung für die
Gewalttätigkeit von Schülern zuzuschieben. Zum Tod eines Menschen kommt es,
weil ein Jugendlicher meint, sich verteidigen zu müssen und in diesem Moment
ein Messer zur Hand hat.
Fazit
Anthony McGowan zeigt in seinem Jugendroman für Leser ab 14 Jahren mit
beklemmender Eindringlichkeit, wie das Ausgrenzen und Demütigen von Schülern
die Grundlage schafft, auf der später Gewalt entstehen kann.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 18. Juli 2009 2009-07-18 09:42:31