Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebt in Amsterdam der 12-jährige
Thomas allein mit seinem Vater; die Mutter ist vor kurzer Zeit gestorben. Der
Winter 1949 ist so bitter kalt, dass Amsterdams Grachten zufrieren. Holz und
Kohlen sind knapp und Lebensmittel kann jede Familie nur in festgelegten Mengen
einkaufen, die ihr durch Lebensmittelmarken zugeteilt werden. Thomas Vater, ein
Kritzler, ein Schriftsteller, hat nach dem Krieg noch keine Arbeit gefunden.
Tante Fie, die Schwester der Mutter, hält Thomas Vater für einen Wirrkopf,
dem sie nicht zutraut, seinen Sohn allein zu versorgen. Thomas ist verrückt
nach seiner Klassenkameradin Liesje, doch davon darf Liesje auf keinen Fall
erfahren. Thomas ist alt genug, um sich für Mädchen zu interessieren, wird
aber von Vater und Tante wie ein kleines Kind behandelt. Was während des
Nationalsozialismus in Amsterdam geschah und wohin so viele Menschen
verschwunden sind, wird Thomas verschwiegen. Wenn Erwachsene miteinander
sprechen, schicken sie die Kinder hinaus. "Ich werde dir später alles
erzählen", weicht Thomas Vater den Fragen seines Sohnes aus. Als Thomas
Vater eine Stelle als Zensor bei der Britischen Rhein-Armee in Deutschland
annimmt, lebt Thomas erst kurz bei Tante Fie, bis er schließlich zu Piet Zwaan,
seinem neuen Klassenkameraden ziehen kann. Piet, genannt Zwaan, lebt mit seiner
Tante und seiner Cousine Beth zusammen. Piets Familie war jüdisch, seine Eltern
und sein Onkel, der Vater von Beth, sind während der deutschen Besetzung der
Niederlande ums Leben gekommen. Als die Klassenkameraden Thomas nachrufen
"Ein Judenfreund bist du!", scheint der Junge nicht zu wissen, was
damit gemeint ist.
Bei Zwaans wird Thomas deutlich, dass in anderen Familien ganz anders als bei
ihm Zuhause über Untertauchen, über Lager und über Juden gesprochen wird.
Piet kann sich noch zu gut an die "Moffen", die deutschen Soldaten und
ihre Uniformen, erinnern und daran, dass sein Vater damals Angst vor diesen
Männern hatte. Seine Eltern hat Piet zum letzten Mal gesehen, als er 6 Jahre
alt war. Thomas stellt verblüfft fest, dass seine Eltern die Zwaans früher
gekannt haben müssen und dass auch er sie kennen müsste. Warum kann er sich an
diese Zeit bloß so schlecht erinnern?
Thomas, Piet und Beth leben wie elternlose Kinder. Beths Mutter ist zwar
anwesend, kann jedoch als ewig leidende, exzentrische Person ihre Rolle als
Hauhaltsvorstand mehr schlecht als recht ausfüllen. Die einzig
"Ältere" ist die 14-jährige Beth, die Piet und Thomas wie Erwachsene
behandelt. Über ihr Heranwachsen spricht niemand mit den Jugendlichen, ebenso
wenig wie über die Vergangenheit. Ganz typisch für die damalige Zeit verhält
sich Thomas Lehrer, dessen Anekdoten nicht über die Zeit des Ersten Weltkriegs
hinaus gelangen. Die drei Jugendlichen müssen ihre Probleme allein lösen.
Stück für Stück decken sie die Schicksale all der verschwundenen
Familienmitglieder auf, von denen nur Fotos zurück geblieben sind und in deren
Häusern inzwischen andere wohnen. Die besondere, zarte Freundschaft zwischen
den drei Jugendlichen ist nicht frei von Eifersucht und verletzten Gefühlen,
dennoch halten sie nach außen fest zusammen. Passend zur Art der Erwachsenen,
die in der damaligen Zeit ihren Kindern vieles verschwiegen, beschränkt sich
der Autor Peter van Gestel auf das Portrait des nachdenklichen Thomas und deutet
vieles nur an. Eine Erklärung, warum kurz nach Kriegsende den Überlebenden das
Sprechen über ihre ermordeten und verschollenen Angehörigen so schwer fiel,
müssen van Gestels Leser selbst finden.
Zu Beginn des Buches habe ich mich gefragt, ob man Jugendlichen über die
Nachkriegszeit erzählen kann, ohne genauer auf den Nationalsozialismus und die
Lebensbedingungen kurz nach dem Krieg einzugehen. Kann man voraussetzen, dass
jugendliche Leser Begriffe wie Lebensmittelmarken oder Judenstern kennen? Peter
van Gestel, der 1937 geboren ist und das Jahr des Wintereises selbst erlebt hat,
beschränkt sich vollkommen auf das Innenleben seiner Figuren und ihre innige
Freundschaft. Gestel bezeichnet sein Buch selbst als "nicht ganz
autobiografisch". Wichtige Informationen über die Verfolgung
niederländischer Juden durch die Deutschen ergänzt die Übersetzerin Mirjam
Pressler in ihrem informativen Nachwort.
Fazit
In "Wintereis" portraitiert Peter van Gestel in sehr poetischer,
feinfühliger Sprache drei niederländische Jugendliche, die weitgehend auf sich
gestellt sind, während die Erwachsenen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt
sind. Thomas, der die Geschichte erzählt, hat deutlich spürbar von seinem
Vater die Freude am Fabulieren geerbt. Ihre tiefe Freundschaft hilft den dreien,
die Folgen des Nationalsozialismus zu begreifen und verarbeiten.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 11. Juli 2009 2009-07-11 12:15:56