Die heutige Medizin ist Kampf gegen den Tod anstatt eine Hinführung zum
Einverstandensein mit ihm. Unsere Ethik ist eine, in der das Ableben nicht
vorkommt, dringend vermieden werden muß, selbst wenn der betroffene Mensch den
Tod wünscht. Daß wir das Wirken der Natur heute als grausam, als unmenschlich
betrachten, ist der beste Beleg dafür, daß der Mensch selbst unnatürlich
geworden sind, daß seine Maßstäbe lebensfremde, ja lebensfeindliche sind.
Manch einer glaubt, Schmerz und Kampf des Körpers reichen nur bis an die
äußere Schwelle des Todes. Dahinter würden sich noch während der Aktion des
Sterbens Frieden und Licht auftun. Wie dem auch sei! - Die Schwelle muß von
jedem überwunden werden, früher oder später, altersbedingt oder aus eigenem
Wunsch. Und genau darum geht im vorliegenden Buch: Der eigene Wunsch zum
Überschreiten der Schwelle hin zum Tode, der doch stets als zu vermeiden
betrachtet wird.
Es gibt kaum ein Film, in dem der Suizidant am Ende doch Hand an sich legt, sich
nicht überreden läßt, zu leben, nicht krampfhaft daran gehindert wird, seine
letzte Freiheit, diejenige über sich selbst, auszuüben.
Es geht also immer wieder beim Menschen um das entschlossene Leben und das
tapfere Sterben, um das Dasein oder die Verehrung des unübertrefflichen eigenen
Potenzials, selbst über das eigene Sein oder Nicht-Sein bestimmen zu können.
In diesem Geiste war Jean Améry, Schöpfer der vorliegenden Studie,
Schriftsteller.
Das Verbot, mit dem Religion und Gesellschaft den Freitod belegen, läßt diesen
als ein Vergehen erscheinen, als unnatürlichen und absurden Akt. Aber drückt
sich in solchem Urteilen und Aburteilen nicht die Scheinobjektivität, das
Unbetroffensein der mit dem Weltlauf Einverstandenen, der Überlebenden, der
Profiteure des Profanen aus? Und hat nicht auch der "natürliche" Tod
sein Unnatürliches und Skandalöses?
Er hat es. Das Dasein an sich ist ebenso skandalös, wie das Sterben aus freiem
Willen. Diese Meinung vertritt der Autor, Améry, hier inständig. Der Suizidant
spricht selbst und gibt sich nicht feige dem irdischen Prinzip preis. Für
Améry ist er gar zu bewundern: "Das Zum-Tode-hin-Leben und der autonome
Akt des Freitodes sind so ohne weiteres nicht vergleichbar, mag immerhin das
Resultat in beiden Fällen dasselbe sein. Wer sterben muß, der ist im Zustande
des Antwortens auf ein Geschick, und seine Gegenrede besteht in Furcht oder
Tapferkeit. Der Suizidant oder der Suizidär aber redet selber. Er spricht das
erste Wort."
Schon der Philosoph Philipp Mainländer malte in seinem zweibändigen Hauptwerk
"Die Philosophie der Erlösung" ein radikales Untergangsszenario, das
einmalig ist und dem vorzubeugen der Freitod die einzige sinnige Konsequenz sei:
"Die Bewegung der Menschheit überhaupt ist die Bewegung aus dem Sein in
das Nichtsein" (I, 215), heißt es dort. Der Philosoph sieht nur die
tiefste Sehnsucht nach absoluter Vernichtung, Erlösung! Erlösung! Tod unserem
Leben! Und die trostreiche Antwort darauf - bei Mainländer: Ihr werdet alle die
Vernichtung finden und erlöst werden. Und wer sie nicht unfrei dem Geschick
folgen müssend finden wird, hat die Möglichkeit, sie frei selbst zu finden:
Hand an sich legen, selbst agieren, autonom handeln, frei handeln - das erste
Wort sprechen.
Das Buch Amérys ist durchaus keine Anleitung zum suizidären Verhalten.
Vielmehr zeigt es dessen eigene Ethik auf, beweist die eigentlich zu erkennende
moralische Hochwertigkeit einer Einstellung, die auf absolute Freiheit bis
zuletzt besteht. Damit lehrt es, die vielen suizidären Gestalten der
Weltgeschichte unter neuem Blickwinkel zu betrachten: "Wer abspringt, ist
nicht notwendigerweise dem Wahnsinn verfallen, ist nicht einmal unter allen
Umständen 'gestört' oder 'verstört'. Der Hang zum Freitod ist keine
Krankheit, von der man geheilt werden muß wie von den Masern. Der Freitod ist
ein Privileg des Humanen."
Über das Verhältnis zwischen dem jahrhundertelang tabuisierten Selbstmord und
dem im Vollbesitz der intellektuellen und seelischen Kräfte geplanten und
durchgeführten Freitod hat wohl niemand Wesentlicheres gesagt als hier Jean
Améry. Das Buch ist einfach geschrieben. Ohne narzißtische Eigenliebe und
spielerische Koketterie analysiert es nüchtern die letzte Konsequenz des
Nihilismus, gegen deren innere Größe eine trauernde Lichterkette für solche,
die sich bequem dem Geschick preisgegeben haben und damit nicht autonom
gestorben sind, wertlos ist.
Fazit
Dieser Text ist jenseits von Psychologie und Soziologie situiert. Er beginnt
dort, wo die wissenschaftliche Suizidologie endigt. An manchen Stellen wird man
mißverstehend vielleicht meinen, Améry hätte hier eine Apologie des Freitods
konzipiert. Solcher Fehlauffassung ist nachdrücklich vorzubeugen. Was nämlich
als apologetisch erscheinen mag, ist nur die Reaktion auf eine Forschung, die
dem "Selbstmord" nachgeht, ohne den seinen Freitod suchenden Menschen
zu kennen. Niemals vorher als hier ist die "condition suicidaire"
derartig treffend beschrieben worden, und zwar mit nur einem Ergebnis:
Der Suizidant ist einer, der seine Sache mit sich abmacht. Er steht jenseits von
Urteil und Pardon. Ein Mensch, dessen Recht über sein Leben, seinen Tod nur ihm
gehört und nicht angetastet werden darf.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 26. Juni 2009 2009-06-26 22:32:56