Frauen wie "Alte Tante Li", die Vorsitzende des
Nachbarschaftskomitees in Fan Wus Kurzgeschichte "Im Jahr des Affen",
waren lange Zeit aus dem chinesischen Alltag nicht wegzudenken. Seit den 50er
Jahren gab es in jeder chinesischen Straße oder Gasse ein oder zwei alte
Frauen, die offiziell im Auftrag der Partei Nachbarschafts- und
Familienstreitigkeiten schlichten sollten. Wenn man in beengten Verhältnissen
wohnt, im Freien in der Gasse kocht und sich eine Gemeinschaftstoilette mit
anderen teilt, kann man kaum etwas vor seinen Nachbarn verbergen. Unter dem
Mäntelchen des offiziellen Auftrags steckten die alten Tanten ihre Nase in jede
Wohnung. Sie befriedigten ihre persönliche Neugier und meldeten natürlich jede
Kleinigkeit der Partei. Ein typisches Relikt der Mao-Zeit, sollte man denken.
Doch Fan Wus (*1974) Geschichte eines abergläubischen Mannes, dessen Leben um
sein zuckendes Augenlid zu kreisen scheint, spielt im Jahr 2004.
Qi Ge (*1971) führt uns in die Zukunft der intergalaktischen Metropole
Shanghai, in der nur wohlhabende Menschen Raum für sich beanspruchen können.
Wer Schulden hat, wird unter staatlicher Aufsicht geschrumpft. Kleine Menschen
brauchen weniger Lebensmittel, so dass von der staatlich verordneten
Verkleinerung der Menschen die Gemeinschaft profitiert. Der junge Ich-Erzähler
möchte nicht nur ein Pickel in der Welt sein, er ist entschlossen, erfolgreich
zu sein, damit er seine menschliche Größe behalten kann.
Familie Sun in Yiyun Lis (*1972) Erzählung "Nach einem ganzen Leben"
hat eine schwerstbehinderte Tochter, die sie seit Jahren schon in der Wohnung
versteckt und von der niemand weiß. Die betagten Eltern Sun sind mit der Pflege
ihrer Tochter Beibei inzwischen völlig überfordert, staatliche Unterstützung
scheint es nicht zu geben. Als Herr Sun sich in einem Maklerbüro, in dem er die
Börsenkurse studiert, mit Herrn Fong anfreundet, gerät das sorgfältig
austarierte Vertuschungs-System der Suns aus dem Gleichgewicht. Frau Sun
ängstigt sich, dass die Fongs hinter ihr Geheimnis kommen könnten, während
Frau Fong ganz andere Ziele verfolgt.
Drei chinesische Autoren, drei Szenen aus dem chinesischen Alltag, die die
Erzähler uns mit unterschiedlichen Stilmitteln nahe bringen. Die 1972 in Peking
geborene Yiyun Li ist die jüngste Autorin, lebt inzwischen in den USA und wird
Ende 2009 ihren ersten Roman in Deutschland veröffentlichen. Li kann
stellvertretend für jene chinesischen Autoren stehen, die inzwischen in
Englisch oder Deutsch schreiben und erst aus der Distanz Vorgänge in China
kritisch schildern.
Ma Jian (*1953) ist der älteste der hier vertretenen Autoren. Er verließ
China bereits 1986, legte 2001 einen international beachteten Bericht seiner
China-Reise vor und wird ebenfalls Ende 2009 einen Roman in Deutschland auf den
Markt bringen. Ma Jians Generation war als Gehaltsempfänger des
Schriftstellerverbandes noch gewohnt, Kritik an Ereignissen der Gegenwart
mundgerecht für die Zensurbehörde in historische Stoffe zu verpacken. Erst in
den 80ern wendete sich die chinesische Literatur allmählich von historischen
Themen und der üblichen Vergangenheitsbewältigung ab, berichtet der
Herausgeber Frank Meinshausen in seinem informativen Nachwort. Ma Jians
Erzählung "Totentanz" treibt in spöttischem Ton Auswüchse des
kapitalistischen Wirtschaftssystems auf die Spitze, das im Zuge der
Öffnungspolitik seltsame Blüten trieb. Er lässt seinen Helden entdecken, dass
sich "der Tod nicht so sehr vom Leben unterscheidet".
Luo Lingyuan (*1963) und Xialu Guo (*1971) vertreten in dieser Sammlung
chinesische Autoren, die im Ausland leben und aus der Ferne noch immer
chinesische Themen bearbeiten. Häufig befassen sie sich mit Brüchen im
Privatleben ihrer Protagonisten oder mit einschneidenden Ereignissen wir der
blutigen Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Tienanmen-Platz. Guo
verarbeitet die Entwicklung der Stadt Peking innerhalb der letzten 20 Jahre in
Briefen eines Mannes, der sich an seine Zeit in Peking erinnert, als er selbst
circa 20 Jahre alt war.
Ha Jin (*1956), der mit inzwischen sechs Büchern auf dem deutschen Buchmarkt
vertreten ist, entlarvt Widersprüche in der Hass-Liebe vieler Chinesen zum
Ausland mit seiner Erzählung "Die Frau aus New York". Chen Jinli
hatte als Lehrerin in den USA gearbeitet und kehrt nun zu ihrem Mann und ihrer
kleinen Tochter nach China zurück. Die Zurückgebliebenen haben sie die ganze
Zeit über hemmungslos beneidet und wollen noch immer nicht wahrhaben, dass
Lehrerin Chen in Amerika "viel verdient und viel ausgegeben" hat. Chen
findet keine neue Arbeitsstelle mit der Begründung, dass man einer Person, die
im Ausland gelebt hat, nicht vertrauen kann.
Li Dawei (*1963) nimmt das historische Thema der Jesuiten in China auf und
lässt den Gelehrten Matteo Ricci (1552-1610) Anlass sein für die Verhaftung
seines Ich-Erzählers durch die kaiserliche Geheimpolizei. Zu Wen (*1967) zeigt
eine besondere Faszination für Räder und runde Formen. Ein Arbeiter in einem
Elektrizitätswerk wird zum Opfer einer Kette absurder Ereignisse, die durch ein
Fahrrad ausgelöst wurden. Eine pfiffige Geschichte, die selbst politische
Ereignisse als Unfälle erscheinen lässt und über das Bild des Rades in
unterschiedlichen Kulturen und Religionen philosophiert.
Erklärende Anmerkungen der beiden Herausgeber im Anhang zu historischen
Ereignissen, das Nachwort zu aktuellen Entwicklungen in der chinesischen
Literatur und Kurz-Biographien aller Autoren vervollkommnen die Sammlung
moderner chinesischer Texte.
Fazit
Für "Neue Träume aus der roten Kammer" wurden Erzählungen in
Deutschland zumeist unbekannter chinesischer Schriftsteller erstmals ins
Deutsche übersetzt. Der Band bietet ein breites Themen-Spektrum und stellt
Autoren unterschiedlicher Generationen vor, die in China oder im Ausland leben.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 24. Juni 2009 2009-06-24 10:46:46