Zum Jahreswechsel 1996/1997 kann die chinesische Firma Tenglong (Aufsteigender
Drache) auf das beste Betriebsergebnis seit Bestehen der Firma zurückblicken.
Dai Xingkong, der Inhaber, spendiert seinen Mitarbeitern ein üppiges Bankett
und zahlt nach dem gemeinamen Singen der Betriebshymne großzügige Prämien an
seine Mitarbeiter aus. Der heimliche Star unter den Angestellten ist an diesem
Abend Jian Roula, eine bewährte und erfolgreiche Außendienst-Mitarbeiterin.
Der junge Unternehmer Dai kann sich zu Shenzhens neuen Reichen zählen. Schon
als Informatik-Student hatte Dai ein Computer-Programm geschrieben und sich mit
Unterstützung seines Freundes Sheng beruflich selbstständig gemacht.
Inzwischen beschäftigt Tenglong einige Hundert Mitarbeiter. Software,
elektronische Taschendolmetscher und neuerdings Stärkungsmittel nach
Rezepturen der TCM gehören zu Tenglongs Produktpalette. Mit dem Bau eines
Hochhauses für den neuen Firmensitz will Dai demonstrieren, dass Tenglong
inzwischen zu den drei erfolgreichsten Herstellern von Stärkungsmitteln nach
traditionellen Rezepturen in Shenzhen gehört. Die chinesische Medizin ist wie
eine Schatzkammer, die für Umsatz und Wachstum sorgt, hat Dai festgestellt.
Kein chinesisches Unternehmen, dessen wichtige Positionen nicht mit
Familienmitgliedern oder engen Vertrauten des Firmeninhabers besetzt wären. Dai
und sein Freund Sheng Howard vertrauen sich seit ihrer gemeinsamen
Studentenzeit. Sheng ist wie ein Bruder für Dai, der jedoch bisher eine
finanzielle Beteiligung seines Vertrauten Sheng am Unternehmen stets
aufgeschoben hat. Dais Beziehung zu Bürgermeister Sun, der den ehrgeizigen
Studenten damals entdeckt und gefördert hat, demonstriert uns anschaulich das
kunstvoll geknüpfte Netz aus Verpflichtungen und Gefälligkeiten, ohne das das
Geschäftsleben in China still stehen würde.
Dais muss jeden Tag an verschiedenen Fronten seine Marktposition verteidigen.
Der Kampf zwischen den drei Marktführern wird rücksichtslos mit harten
Bandagen geführt. Dass fliegende Händler mit Dais Markennamen direkt vom Lkw
gefälscht Tränke aus minderwertigen Zutaten verkaufen, interessiert weder die
Behörden noch die Polizei. Dais guter Name und die Existenz seiner Firma stehen
nun auf dem Spiel. Um sich am Markt behaupten zu können, stellt Dai Tang Anqi,
eine neue Werbetexterin ein. Zusätzliche Sicherheitskräfte sollen Mann gegen
Mann den Kampf mit den Produktpiraten aufnehmen. Dai bringt sich im Kampf um
seinen guten Namen selbst in Gefahr.
In der Liebe hat Dai bisher wenig Glück gehabt. Seine Frau Lanni hat ihn schon
zu der Zeit verlassen, als er nur seine Softwareprogrammierung im Kopf hatte.
Dai ist für die Reize der attraktiven Roula empfänglich und empfindet auch
gegenüber Anqi tiefe Zuneigung. Anqi muss sich erst von den Ansprüchen ihrer
Eltern lösen, die den Partner ihrer Tochter bestimmen möchten. Roula flirtet
offen mit Dai und ist dennoch unentschlossen, ob sie lieber auf ihre berufliche
Karriere oder eine Beziehung zu ihrem Chef setzen soll. Eine Vermischung von
Privatem und Geschäftlichem wird Dai und ihr Ärger bringen, fürchtet Roula.
Auch die scheue Anqi zweifelt daran, dass eine Liebesbeziehung am Arbeitsplatz
Glück bringen wird und weist Dai zunächst ab. Geld allein macht nicht
glücklich - aber was kann Dai, Sheng, Roula und Anqi glücklich machen?
Luo Lingyuan befriedigt mit ihrem Roman, der zwischen Dengs Tod und der
Rückgabe Hongkongs an China spielt, die Neugier ihrer Leser auf das moderne
China. Den Aufstieg eines jungen, erfolgreichen Unternehmens passt Luo in ein
uns vertrautes Szenario aus den häufig mit China assoziierten Themen
Produktfälschungen, Korruption und mangelnde Rechtssicherheit ein. Mit Dai und
Sheng lässt sie zwei junge, erfolgreiche Männer in beruflichen und privaten
Krisen offen Schwächen und Enttäuschungen zeigen. Luos unentschlossen wirkende
Frauenfiguren erinnern an die Heldinnen ihrer Kurzgeschichten in
Nachtschwimmen im Rhein. Roula und
Anqi können nur schwer ihre Wünsche aussprechen und eigene Ziele verfolgen.
Eine auffallende Sprachlosigkeit prägt die Sexualität der handelnden Personen;
Luo beschreibt Sexualität als etwas, das Männer sich nehmen und Frauen
erleiden.
Fazit
In knapper, kühler Sprache protokolliert Luo Lingyuan in "Die Sterne von
Shenzhen" Freud und Leid im Leben des jungen chinesischen Unternehmers Dai
und seiner engsten Mitarbeiter. Um an die von Luo verwendeten Bilder in Gedanken
anknüpfen zu können, müssen ihre Leser zwischen den Zeilen lesen und in
einigen Szenen des Buches denken können wie Chinesen. Der Roman der
Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerin erfordert, dass seine Leser sich auf eine
fremde Kultur mitsamt ihren für uns umgewohnten unausgesprochenen Regeln
einlassen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 09. Juni 2009 2009-06-09 19:34:34