"Liebe Mom,
[...] vielleicht solltest du einfach wegziehen und deinen Namen ändern und
eine neues Kind bekommen. Fang noch mal von vorne an. Ich wünschte, ich
könnte dabei mitmachen, aber ich kann jetzt einfach nicht mehr zurück.
Gary"
Gary und Brendan haben den Abschlussball ihrer Schule benutzt, um sich an allen
zu rächen, von denen sie sich über Jahre hinweg verachtet fühlten. Gary
Searles Stiefschwester Denise recherchiert die Vorgeschichte des Attentats und
sammelt zu diesem Zweck Erinnerungen und Beobachtungen von Mitschülern, Eltern,
und Lehrern. Einige Mitschüler erinnern sich an Gary seit der zweiten Klasse
als einen ruhigen, dicken Schüler, der von Anfang an gehänselt wurde und sich
später zu einem cleveren Computerfreak entwickeln würde. Brendan hat nach
einem Schulwechsel nie Fuß an der neuen Schule fassen können und im Unterricht
zu Anfang wochenlang geschwiegen. Seine Mitschüler sehen ihn als
kompromisslosen Gerechtigkeitsfanatiker, der nicht bereit war, sich der an der
Schule herrschenden Hierarchie zu unterwerfen. Ein Typ, der nie nachgibt, muss
zwangsläufig Ärger an der Schule bekommen. An der Middletown Highschool
existierte eine Elite aus Footballspielern und Cheerleadern, gut aussehende
Blondinen waren gerade noch zugelassen, die auf normale Schüler herabsahen und
andere - ungehindert von den Lehrern - drangsalierten. Football bestimmte das
gesamte soziale Leben an der Schule und war ihr unentbehrliches Aushängeschild.
Mit einer erfolgreichen Schach-AG hätte die Schule in der Öffentlichkeit nicht
viel hermachen können.
Aus unterschiedlichen Perspektiven entsteht schon zu Beginn der fiktiven
Handlung (die sich eng an die Ereignisse an der Columbine High School anlehnt)
das Bild zweier Außenseiter, die nie eine Chance hatten, an ihrer Schule
anerkannt zu werden. Kein Wunder, dass die beiden eine fast symbiotische
Beziehung zueinander fanden und in ihrer eigenen Sprache zu sprechen schienen.
Zwischen die Informations-Schnipsel schleicht sich von Anfang an eisige Kälte,
als immer deutlicher wird, dass beide Schüler wegen einer Gewalttat im
Mittelpunkt des Interesses stehen. Die Erinnerungen der Schüler und
Angehörigen setzen sich zu einem Bild einer allmählichen Entfremdung von Gary
und Brendan zusammen. Szenen, in denen vom ewigen Loser, von Rachephantasien,
Waffen oder von Selbstmord gesprochen wird, mag mancher gerade noch als normal
empfinden, andere hätten schon früh deutliche Hilferufe der beiden
Außenseiter erkennen können. Garys und Brendans ungestillter Hunger nach
Anerkennung wird besonders deutlich in Statements von Schülern, die an der
Middletown Highschool ebenso wenig Fuß fassen konnten wie die beiden späteren
Gewalttäter.
Als szenische Inszenierung und Rekonstruktion der Ereignisse lässt "Ich
knall Euch ab" Opfer, Zeugen und auch die Eltern der Täter zu Wort kommen,
über zwanzig verschiedene Personen. Die Rolle von Computerspielen in Brendans
und Ryans Leben wird kurz skizziert; Ryans Vater äußert sich zum für die USA
charakteristischen verfassungsmäßigen Recht, sich mit einer Waffe verteidigen
zu dürfen. Cynthia formuliert schließlich die entscheidenden Gedanken: wäre
es nicht wichtiger, eine Gesellschaft in Frage zu stellen, die die Anwendung von
Gewalt akzeptiert? Wäre die Schaffung von Schikane-freie Zonen in Schulen
nicht dringender als drogenfreie Zonen?
Das Vorwort des Autors und die abschließende Analyse des Sozialwissenschaftlers
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann stellen zwischen der in den USA spielenden Handlung
und dem Amoklauf in Erfurt 2002 eine enge Beziehung her und zeigen
Gemeinsamkeiten zwischen jugendlichen Amokläufern auf. Hurrelmanns
unzeitgemäße Wortwahl zu den Themen Film und Computerspiel zeigt jedoch auch,
wie schnell Einschätzungen von Wissenschaftlern veralten und wie ein Experte an
Glaubwürdigkeit einbüßt, der zwar über Jugendliche spricht, jedoch
offensichtlich nicht mehr mit ihnen im Gespräch ist.
Fazit
"Ich knall Euch ab" bietet sich nicht nur als Schullektüre an, zu der
Unterrichtsmaterialien und Lernkartei zur Verfügung stehen, sondern hält für
alle Leser, die sich mit dem Thema Jugendgewalt beschäftigen, vielfältige
Diskussions-Anregungen bereit.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 24. März 2009 2009-03-24 11:25:42