Die Zukunft des Fünfzehnjährigen Ryan Knighton aus Langley, einer kanadischen
Kleinstadt nahe Vancouver, scheint vorgezeichnet zu sein. Er wird neben der
Schule einen Job annehmen, schon vor dem 18. Lebensjahr die Fahrprüfung ablegen
und später ein Studium beginnen. Während seines Ferienjobs als Lagerarbeiter
baut Ryan einen Unfall mit dem Gabelstapler. Ryan ist sich keiner Schuld
bewusst; er ist überzeugt, dass er den Kollegen, den er beinahe überfahren
hätte, nicht erkennen konnte. Die ersten Hinweise darauf, dass Ryans
Sehfähigkeit sich rapide verschlechtert, nimmt zu diesem Zeitpunkt noch niemand
wahr. Fünfzehn ist kein Alter, in dem ein Jugendlicher über seine
Sehfähigkeit nachdenkt oder sich für behindert hält. Ryan fällt nun im Lager
die Rolle Tollpatsches zu, den man besser nicht den Gabelstapler fahren lässt.
Ryan besteht den Sehtest für den Führerschein, legt seine Fahrprüfung ab und
parkt bei seinen ersten Fahrversuchen die Familienkutsche formvollendet plus
demoliert an einer unmöglichen Stelle. Das Auto kann nur per Abschleppwagen
wieder herausgeholt werden. Ryans Vater ist stocksauer. Als Knighton junior sich
mit knapp 18 Jahren vom Augenarzt untersuchen lässt, lautet dessen vernichtende
Diagnose: Retinitis Pigmentosa, eine degenerativen Erkrankung der Netzhaut, die
zur Erblindung führt. Ryans Gesichtsfeld hat tatsächlich Löcher und er ist
völlig nachtblind.
Die Konsequenz der Diagnose verdrängt Ryan zunächst. Wie fast jeder Junge
seines Alters zieht er aus der Kleinstadt nach Vancouver, um dort zu studieren.
In der neuen Umgebung muss Ryan sich der Tatsache stellen, dass er zwar in der
Uni einigermaßen zurecht kommt, aber ohne Hilfe anderer kaum selbstständig in
Discos und Kneipen unterwegs sein kann. Der nächste Schritt ist ein
Mobilitätstraining mit dem weißen Blindenstock. Den Stock tatsächlich zu
benutzen und damit die eigene Behinderung für alle anderen sichtbar anzunehmen,
fällt Ryan erheblich schwerer als das Training. Wohl wissend, dass er mit
seiner verbliebenen Sehfähigkeit ohne Hilfe noch nicht einmal das
Kneipen-Pissoir allein finden kann, leistet Ryan sich Phasen, in denen er seine
Behinderung schlicht ignoriert. So reist er gemeinsam mit Freundin Tracey nach
Südkorea, wo beide als Englischlehrer an einer Privatschule arbeiten wollen. In
Südkorea gibt es offiziell keine Blinden, keine weißen Stöcke und erst recht
keine blinden Lehrer, die sich eine Glatze rasiert haben. Um Ryans Blindheit in
der Öffentlichkeit zu verbergen, muss er sich wie ein unselbständiges Kind von
Tracey führen lassen. Eine groteske Situation, die die Frage aufwirft, wie
stark Ryans Behinderung die Beziehung zu Tracey belastet und wie er mit der
Abhängigkeit von seiner Partnerin umgeht. Während Ryan längst mit allen
technischen Hilfsmitteln für Blinde erfolgreich berufstätig ist, macht er
einen weiteren Schritt, um seine Behinderung anzunehmen als er sich für ein
Ferien-Camp nur für blinde Teilnehmer anmeldet. Die Begegnung mit anderen
erwachsenen Blinden bestätigt Ryan in dem, was er schon immer wusste: Blindheit
ist kein dominierendes Merkmal, jeder von ihnen ist unter anderem blind, aber
jeder von ihnen hat sein persönliches Schicksal, seine individuellen Macken.
"Für mich ist Sehen mehr ein Erzählen" berichtet der Autor. Die
Illustration des Buchtitels ergänzt Knightons Aussage auf bemerkenswerte Art.
Wir sehen die schwarz gekleidete Figur eines Mannes, dessen Kopf keine
Gesichtszüge zeigt. Das Gesicht wird allein durch eine schwarze Brille
angedeutet, die weiße Fläche lässt uns Knightons kahlen Kopf assoziieren.
Die rechte Hand locker in der Tasche, trägt der Titelheld einen ausgezogenen
Blindenstock unter dem Arm, der in einem künstlichen Augapfel endet. Er hat den
Stock weder zusammengefaltet noch ergriffen, die Hand in der Tasche
demonstriert seine Distanz zum Blindenstock.
Fazit
Ryan Knighton macht seine Leser zum Augenzeugen tragikomischer Szenen, bis sich
der Ich-Erzähler allen Etikettierungen zum Trotz schließlich als blinder
berufstätiger Mann mit einer festen Partner-Beziehung annehmen kann. Als
virtuoser Erzähler mit Sinn für Situationskomik entlarvt Knighton unseren
Umgang mit Behinderten, spiegelt, wie wir aus Unwissenheit oder Unsicherheit
Behinderte wie kleine Kinder behandeln, die nicht für sich selbst sprechen
können. Hucky Meiers stilsichere Übersetzung harmoniert elegant mit Knightons
Sprache und Temperament.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 06. März 2009 2009-03-06 08:43:48