Freiheit, Pflicht und kategorischer Imperativ - Die Aufklärung in
Deutschland
"Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"
Wer hat ihn nicht schon einmal gehört, diesen Satz aus der Feder des Horaz,
welcher auch im Werk Immanuel Kants seine Anwendung fand? Doch inwiefern
erfordert es Mut, den eigenen Verstand zu nutzen? Und was meint Kant, wenn er
zur Aufklärung schreibt, sie sei "... der Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit"? Ab 1750 steht für Kant und das
deutsche Denken ein entscheidender Faktor im Mittelpunkt: Die Frage "Woher
kommen die Maßstäbe in der Welt?"
Es gibt für Kant keinen Gott und keine wohlgefügte Ordnung. Es sei allein von
den Menschen selbst und ihrer Vernunft auszugehen (kopernikanische Wende). Die
moderne Philosophie müsse selbst aus sich heraus das Kriterium zum Handeln
erschaffen. In der kopernikanischen Wende erfolgt ein passender
Paradigmenwechsel: Nach alter Auffassung mußte sich das Denken des Menschen der
Objektwelt anpassen. Der Verstand mußte bisher dem Außenstehenden angepaßt
werden. Kants neue Auffassung ist, daß die Objektwelt sich nach dem Verstand
des Subjektes als Mensch richten muß und nach seinem Handlungsvermögen. Die
Vernunft spricht also mit uns in Formen von subjektiven Imperativen, nicht in
Form von Urteilen. Die Imperative legen fest, was das Subjekt tun soll. Kant
geht vom autonomen Menschen und seinem Willen aus, der sich selbst die Gesetze
gibt - eine großartige Leistung der deutschen Philosophie. Sie macht hiermit
den Menschen frei, aber zugleich pflichtbewußt. Achtung ist ein Handeln aus
Pflicht. Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für das
Gesetz heraus. ("Metaphysik der Sitten"). Es beginnt die Zeit der
Aufklärung.
Die Leistung: Eine naturwissenschaftliche Klimalehre und die Vernunft der
Eliten
Die Brüder Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) und Alexander von Humboldt (1769
- 1859) haben in dieser Zeit Geschichte geschrieben - über das Philosophische
hinaus. Als Philosoph, Sprachforscher und preußischer Staatsmann der Ältere,
als Naturforscher, Schriftsteller und Weltreisender der Jüngere. Jeder leistete
auf seinen Gebieten Herausragendes. Die Brüder Humboldt waren einander
zeitlebens sehr verbunden, dabei aber grundverschieden in Temperament und
Interessenlage. Das neu vorliegende Buch von Manfred Geier schildert in einer
einmaligen Doppelbiographie das Wirken der beiden Brüder und entwirft zugleich
ein Bild der Epoche, in der sie lebten: Groß geworden eben im prägenden
Zeitalter der Aufklärung, nahmen sie teil am Höhenflug der Klassik, um
schließlich einen wissenschaftlichen Universalismus zu entwerfen, der
hochgradig aktuell ist. Was wir bei den Humboldts selten finden, ist
philosophische Kritik am Politischen. Gerade das kritische Denken Deutschlands
in der Tradition der Aufklärung bezieht sich stets positiv auf den Staat (Kant
und Hegel). Hier herrscht staatsloyale Wissenschaft, die auf den Weltgeist setzt
und wo die Eliten im Sinne Wilhelm Humboldts die Vernunft selbst in die
Führungsposition schaffen. Das Buch zeigt deutlich, wie die Humboldts noch in
dieser Tradition stehen. In Frankreich hingegen ist Aufklärung und Revolution
gleichbedeutend. Macht und Aufklärung ergeben den Terror Robbespierres, denn
die Rationalisierung der Macht soll hier Erfolg haben.
Alexander Freiherr von Humboldt entwickelte als Begründer der tellurischen
Physik, der Tier- und Pflanzengeographie und einer Klimalehre ein System der
Höhenzonierung: So wie sich die Pflanzengesellschaften horizontal vom Äquator
zum Pol ablösen, vollzieht sich eine ähnliche Abfolge auch in der Vertikalen.
Der Chimborasso fußt im überquellenden Äquator-Regenwald, der Gipfel ragt in
die "arktische" Zone. Alexander von Humboldt kam durch systematische
Beobachtungen und durch intelligente Vergleiche zu seinem
"Höhenzonenmodell". Er beschrieb neben dem 6267 Meter hohen
tropischen Chimborasso den Mont Blanc (4807 Meter) und den vergletscherten
Suliteima (1594 Meter) in Lappland. Er betrachtete Erde, Klima, Pflanzen, Tiere
und Menschen in ihren Wechselbeziehungen zueinander. Seine Hauptwerke,
insbesondere seine Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, waren prägende
Bücher in seinem Zeitalter.
Wilhelm Freiherr von Humboldt war 1802 - 1808 preußischer Gesandter in Rom, war
Gesandter in Wien und London, Vertreter an den Pariser Friedensverhandlungen und
auf dem Wiener Kongreß. Als vorübergehender Minister 1819 war er deutscher
Sprachforscher und Bildungspolitiker. Im preußischen Innenministerium (seit
1809) wurde er als Leiter des Kultus- und Unterrichtswesens zum Schöpfer des
humanistischen Gymnasiums und entwickelte das Bildungssystem der 1810
gegründeten Berliner Universität, deren erster Rektor Johann Gottlieb Fichte
wurde. Gerade mit der prägend deutschen Idee, daß die Eliten die Vernunft und
die Disziplin selbst in den Staatsapparat hineintragen, was in Preußen
tatsächlich erfolgreich funktionierte, trat er hier erstmals auf. So war der
Staat praktisch und theoretisch sein Forschungsbereich. Er begründete die
vergleichende Sprachwissenschaft und die Philosophie der Sprache. Er hatte die
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen und
legte die Grundlagen liberaler und demokratischer Staatsauffassungen in
Deutschland. Insbesondere das nachkriegsgeprägte Verständnis vom deutschen
Grundgesetz, das sich heute als wertegebundenes und regloses Konstrukt
darstellt, weil es eine Ewigkeitsklausel mit Exklusionsabsichten gegenüber
eventuell notwendigen verfassungsverändernden Motivationen enthält, steht
einer Maxime deutscher Staatsphilosophie von Wilhelm von Humboldt streng
entgegen. Ihr zufolge gilt folgendes:
"Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen
Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit verbundenes:
Mannigfaltigkeit der Situationen."
Deutscher Liberalismus und politische Pluralität
Um auf diese zu reagieren und das politische Augenmaß hinsichtlich pluraler
Bestrebungen im Volk zu erweitern, ist die Politik heute kaum noch in der Lage,
aktiv auf die Mannigfaltigkeit von Situationen und Ansichten einzugehen. Sie
reagiert lediglich noch gefahrenabwägend und erstellt Verbote. Selbst die
Verfassungspläne des konservativen deutschen Widerstandes atmen den Geist einer
Totalität der Politik für die vielfältigen Interessen des ganzen Menschen und
nicht nur für seine materiellen Bedürfnisse oder diejenigen einiger
Privilegierten. Bei Carl Goerdeler, Kommunalpolitiker aus Leipzig und 1945
hingerichtet, stellt sich die Verwurzelung in der deutschen Geschichte bei jeder
demokratischen Reorganisation als ebenso zentral heraus, wie das Ziel des
Zusammenschlusses der europäischen Staaten auf nationaler Basis. Als Grundlage
von Goerdelers Denken ist das Erbe des älteren deutschen Lieberalismus in der
Epoche Steins und Humboldts, das sich im Sinne humanistischer Ideale jenseits
vom empirischen Positivismus und Materialismus entfaltete, eindeutig
erkennbar.
Alles in allem legt Geier eine überzeugende Doppelbiografie der Brüder Wilhelm
und Alexander von Humboldt vor, die man gern liest und die gelungen ist. Dabei
zeichnet sich das Buch nicht nur durch eine Darstellung einer fesselnden und
bewegten Epoche, der Aufklärung, aus, sondern überzeugt vor allem durch die
immanente Komplementarität der Beschreibungen: Es geht nicht nur um
Forschungen, sondern auch um den Charakter der Humboldts und ihre Beziehungen.
Dabei wird auch die unterschiedliche sexuelle Orientierung der Brüder nicht
verschwiegen.
Fazit
Das Buch erscheint rechtzeitig zum 150. Todestag Alexander von Humboldts am 6.
Mai 2009.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 28. Februar 2009 2009-02-28 12:23:40