Ostpreußen bleibt eine große Stätte der deutschen Geistesgeschichte: Johann
Gottfried Herder, E.T.A. Hoffmann, Siegfried Lenz und schließlich Immanuel Kant
prägten das deutsche Denken. Insbesondere mit Kant wurde eine mentale
Grundhaltung firmiert, deren Wurzel in Königsberg liegt und das deutsche Denken
bis heute prägt. Der Staatsvertrag ist für ihn die allgemeine
Verbindlichmachung und die Unbedingtheit des Sittengesetzes. Recht und Staat
sind daher die äußere Erscheinungsform der Freiheit unter Bändigung der
politischen Willkür. Politik aber rechtfertigt sich einzig und allein aus ihrer
Unterstellung unter die Moral des Menschen. Sie steht bei Kant im Dienste der
Realisierung des Sittengesetzes und nicht im Dienste der Durchsetzung eines
natürlichen Bedürfnisses und Interesses.
Darin liegt bei Kant, dem ostpreußischen Philosophen, die Orientierung auf das
allgemeine Wohl. Die Vernunft wird als Vernunftwille bestimmt. Als
unbezweifelbar und verbindlich gilt nur das, was der Mensch vernünftigerweise
wollen kann, woran er sich im sittlichen Willen an das Ganze bindet. Mit Kant
entstanden die geistigen Grundlagen eines Preußentums, das seine Wurzen in
Königsberg hatte: Toleranz, Staatsräson, Vernunft, Loyalität, Disziplin und
Ideologiefreiheit. Nicht lediglich dies machte Ostpreußen zum Kleinod deutschen
Denkens und zum Inhalt der Sehnsüchte nicht nur der ostpreußischen
Vertriebenen.
Die Inbesitznahme Ostpreußens durch den deutschen Orden erfolgte schon 1230.
Die Menschen der geistige Wiege Preußens, des vorbildhaften Staatsgebildes,
empfanden insbesondere nach dem ersten Weltkrieg eine tiefe Solidarität mit dem
Westen. Ostpreußen sah sich infolge des Leidtragens infolge des polnischen
Nationalismus gerade jetzt als Teil des Deutschen Reiches und galt vielen
Deutschen wiederum als Bollwerk gegen den Bolschewismus.
Andreas Kossert erzählt die Geschichte dieses faszinierenden Landes zwischen
Weichsel und Memel, seiner Ursprünge und Mythen. Er beschreibt den Alltag in
Königsberg, Tilsit und Marienburg und die dramatischen Ereignisse vom Vorabend
des Zweiten Weltkriegs bis zur Vertreibung von über zwei Millionen Menschen in
den Jahren nach 1945. Im Winter 1945/46 begannen die großen Massenaussiedlungen
aus dem deutschen Land. Dreieinhalb Millionen Deutsche wurden aus Ostpreußen
vertrieben, aber eine Million blieben. Beschrieben werden das Leben, die
Hoffnungen und Ängste der Menschen in Ostpreußen in den Jahren vor und
während des Zweiten Weltkriegs. Auffällig ist, daß es durchaus um eine
Wiederentdeckung ostpreußischer Geschichte und Kultur aus deutscher Perspektive
geht, wobei der Autor gerade dem unvergänglichen Zauber ostpreußischer
Landschaft gerecht werden will. Der Autor nähert sich einem hoch emotionalen
Thema, von dem viele deutsche Familien betroffen sind. Die Analyse begründet
einen Entwurf Ostpreußens, basierend auf der Einsicht in "Preußens
Ursprünge in Ostpreußen", die auch von der dynamischen Kraft eines
Einwanderungslandes zeugen.
Mitten in den ostpreußischen Sommer 1944 brach der Krieg. In Turowen z.B.,
Kreis Johannisburg, wurden beim Einmarsch der Sowjets Frauen ermordet, die
meisten über 70 Jahre alt. Beim Einrücken in Schönwalde am 22. Januar 1945
wurden 100 Bewohner grausam ermordet. Die deutsche Kulturlandschaft in
Ostpreußen ging unter. Am 30. August fiel eine totbringende Bombenlast auf
Königsberg. Sie forderte 4.200 Tote. Die Stadt Königsberg war eine Brache. Die
verbliebene Königsberger Bevölkerung dezimierte sich um 80 Prozent. Polnische
Banden marodierten. Die verbleibenden Deutschen widersetzten sich der brutalen
Polonisierung und unterlagen dem Herrschaftsanspruch der neuen Machthaber.
Bisher kaum beachtet: Als ab dem Frühjahr 1939 die Verfolgung der Deutschen im
Osten wieder schärfste Formen annahm, setzte bereits hier eine Massenflucht von
Deutschen ein. Bis zum August, dem Monat vor dem Kriegsbeginn, waren über
76.000 Menschen in das Reichsgebiet geflohen und 18.000 zusätzlich in den
Freistaat Danzig. Die sich dramatisch verschlechternde Lage der Volksdeutschen
im Osten und die Massenflucht vom Sommer 1939 haben das seit langem schwelende
Danzig-Korridor-Problem überdeckt. Heute ist von dem Los der Volksdeutschen in
Polen und von der Massenflucht im Sommer 1939 in unseren Schulgeschichtsbüchern
kein einziger Satz zu lesen. Auch im vorliegenden Buch kommt dieser Aspekt nicht
vor. Für die meisten Deutschen im Reichsgebiet war die Niederlage Polens 1939
eine Befreiung der Millionen Volksdeutschen von jahrzehntelanger Drangsalierung
und aufgezwungener Fremdherrschaft. Diese Befreiung hätten viele Deutsche gerne
auf dem Verhandlungsweg und ohne Krieg erreicht.
Fazit
Solange der Heimatverlust eines Fünftels der deutschen Bevölkerung
ausgeklammert bleibt, ist die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht geleistet.
Insofern ist das Buch zu begrüßen, hätte aber eben wesentlich Aspekte mit
benennen müssen. Bis heute macht die Erinnerung und die Sehnsucht der Deutschen
nach Ostpreußen dieses Land zu ihrer Heimat und wehrt sich gegen ideologische
Diskriminierungsmaßnahmen, die sich noch immer aus einer vermeintlich
"falschen" Geschichtsauffassung ergeben, wonach die Vertreibung
ausschließlich von Deutschland verursacht worden bzw. "gerechte
Strafe" sei. Entgegen solcher geistigen Brandstiftung erfreut den Leser
besonders, daß der Autor lyrische Exkurse im Buch aufnimmt, so wie etwa
folgendes Gedicht:
Land der dunklen Wälder
Und kristallnen Seen,
über weite Felder
lichte Wunder gehn.
Starke Bauern schreiten
Hinter Pferd und Pflug,
über Ackerbreiten
streicht der Vogelzug.
Tag ist aufgegangen
Über Haff und Moor,
Licht hat angefangen,
steigt im Ost empor.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 08. Februar 2009 2009-02-08 12:04:42