Winfried Müller-Seyfarth, der Herausgeber der bibliophilen vierbändigen
Schriften Philipp Mainländers, hat unter dem hier vorliegenden Titel
"Metaphysik der Entropie" eine eigene Studie zur transzendentalen
Analyse und ihrer ethisch-metaphysischen Relevanz des Radikalpessimisten
Mainländer vorgelegt. Wie nicht anders zu erwarten, erweist sich der Berliner
Thanatologe als überzeugender Kenner der Gedankenwelt Mainländers. Das Buch
ist versehen mit einem Vorwort von Franco Volpi, der den Autor völlig zu Recht
als Spezialisten auf seinem Facht sieht.
Die Grundlage des mainländerschen Denkens besteht darin, daß wenn die
herkömmliche Transzendenz ihre Verbindlichkeit verliert, man vor der
Unendlichkeit des Alls erschaudert, der Mensch zwangsläufig auf sich selbst
gestellt seine eigene Freiheit verlangt und die Frage der metaphysischen
Heimatlosigkeit, des Mangels an einem transzendentalen Rückzugsort auf seine
eigen Weise beantwortet - ohne herkömmliche religiöse Schemata. Genau dies tat
Mainländer konsequent und überzeugend. Müller-Seyfarths Studie setzt mit
einer Untersuchung der "Kant-Modifikationen" Mainländers ein. Ebenso
zeigt er Mainländers Missverständnisse der Transzendentalphilosophie auf und
verhehlt auch nicht, wo seine "Verbesserungen" hinter Kant
zurückbleiben.
Ein besonderes Augenmerk richtet Müller-Seyfarth auf Mainländers Verhältnis
zu Julius Bahnsen. Beide stünden auf den Schultern Schopenhauers. Anders als
Schopenhauer, der von nur einem Willen sprach, der im principium individuationis
als vielfältig erscheine, entwickelten seine beiden originellsten Schüler
jeweils einen "Willenspluralismus". Im Buch wird sehr detailliert und
spannend die Gedankenwelt Mainländers analysiert. Das Prinzip von der
Thanatologie Gottes steht dabei im Mittelpunkt:
Gott war gestorben und sein Tod erst war das Leben der Welt!
Mainländers Philosophie ist von Anfang an auf Erlösung angelegt. Sein
vorweltliches göttliches Subjekt, das All-Eine, kann sich von seinem Leiden und
Dasein nur über einen Umweg erlösen. Zuvor muß es sich in einem Akt der
Transformation und Materialisation zur Welt zersplittern, damit die in ihr sich
bekämpfenden Individualwillen irgendwann im Zustand der Erschöpfung endlich
ihre Auf- und Erlösung finden kann - und mit ihnen und der gesamten Welt auch
der ursprüngliche Gott.
Kurz: Als Sachverhalt gilt Mainländer der Zerfall der vorweltlichen einfachen
Einheit in die immanente Welt der Vielheit, der Tod Gottes und die damit erst
ermöglichte Geburt der Welt. Die Welt ist das Mittel zum Zwecke des Nichtseins
- über den Weg der unüberwindbaren kontinuierlichen Schwächung der Kräfte,
die das Seiende ausmachen. Selbst der Zweck des lebensbejahenden und
lebensverneinenden Menschen ist beiderseits der Tod, denn beide erreichen den
Tod unweigerlich. Der eine im Willen zum Leben und der andere im Wissen davon,
daß es kein Ausweichen vor dem Nichts gibt. Der lebensverneinende Mensch jedoch
schwächt effektiver die Kraftsumme des Alls als der krampfhaft am Leben
hängende.
Ruhe bedeutet für Mainländer Tod, der Schlaf ist Waffenstillstand im Kampf ums
Dasein und die Rückkehr in die vorweltliche Kampflosigkeit als Überwindung des
Weltzwiespaltes. Ein permanenter Energie- und Seinsverschleiß prägt das Sein,
an dessen Ende das Nichts steht. So versteht sich von selbst, warum Mainländer
jedem Lebewesen ein Streben nach dem Nichts, der Ruhe des Todes unterstellt,
gleichgültig, ob dies anerkannt wird oder nicht. - Es ist einfach so. Mehr
noch: Das Gesetz des Schmerzes radikalisiert den Pessimismus Schopenhauers mit
der Konsequenz von Freitod und Virginität, um dem absoluten Nichts aktiv ins
Auge zu blicken und die einzig effektive Konsequenz zu ziehen. Der Suizid stellt
aufgrund der universellen Schwächung der Kraft, die jeden betrifft, damit
keinen Unterschied zum Willen zum Leben dar. Tod wird nicht als Übel gesehen,
sondern als Erlösung im Sinne des lediglichen Einfügens in die Schwächung der
Kraft im All.
Jedenfalls haben sich seit Schopenhauer, Bahnsen und Mainländer, wie der Autor
formuliert, "die Gründe für den philosophischen Pessimismus
verstärkt". Das Buch ist ein Geheimtipp für Liebhaber des Pessimismus,
die nicht unbedingt abseits vom Leben stehen müssen, denn Mainländer selbst
war Soldat, Bankangestellter und versierter Spekulant im Geldgeschäft. Er
zeigt, daß philosophischer Pessimismus nichts für Weltabgewandte ist, auch
wenn sie - im Philosophischen - genau diese Konsequenz ziehen.
Fazit
Die vorliegende monographische Gesamtdarstellung ist optimal zur Einführung,
aber auch durch ihre stellenweise Tiefe sehr geeignet zum fortgeschrittenen
Studium, so etwa mit Blick auf die enthaltene Geschichte der
Mainländer-Rezeption durch Nietzsche oder E.M. Cioran.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 31. Januar 2009 2009-01-31 10:36:28