Corinne Mulvaney hatte sich immer für ein Lieblingskind Gottes gehalten. Die
Mulvanys leben in den 70ern des 20. Jahrhunderts mit ihren vier Kindern den
amerikanischen Traum als Hobby-Farmer; den Lebensunterhalt verdient Vater
Mulvaney als Dachdecker. Doch sie waren die Mulvanys, sie sind es nicht mehr.
Etwas Schreckliches muss passiert sein. Hinter der düsteren Drohung, die über
der Familienidylle schwebt, kündigt sich etwas noch Schrecklicheres an, das
über zahlreiche Rückblenden und Perspektivwechsel hinweg die Leser in Atem
hält. Aus der Erinnerung des jüngsten Sohnes Judd, der immer ein wenig zu jung
war, um von den anderen ernst genommen zu werden, entfaltet sich der Niedergang
der Mulvaneys. Als 17-Jährige war Marianne von ihrem Tanzpartner mit Alkohol
abgefüllt, vergewaltigt und wie ein lästiges Paket ihrer besten Freundin vor
die Tür gesetzt worden. Marianne fühlt sich schuldig, verschweigt die Tat und
vertraut sich erst ihrer Mutter an, als der ganze Ort schon über sie tuschelt.
Eine Anzeige verbietet sich von selbst, glauben die Mulvaneys. Sie sind
überzeugt davon, dass der Täter sich auf Mariannes Einverständnis berufen
wird und vor Gericht der Ruf des Opfers durch den Verteidiger des Täters
endgültig ruiniert werden wird. Der Täter aus bester Familie kann sich darauf
verlassen, dass seine Kumpel ihn nicht im Stich lassen und ihm ein Alibi geben
werden. Zuhause schweigen die Mulvaneys eisern über die Tat, über
"es". Die tüchtige, gläubige Corinne meint, ihren aufbrausenden Mann
vor seiner Tochter und der deprimierenden Einsicht bewahren zu müssen, dass er
beim Schutz seiner Familie versagt hat. Mariannes gesamte Familie wird zum
Opfer, sie alle werden zukünftig geschnitten, das kleine Unternehmen von Vater
Mulvaney, der nun nicht mehr "dazu gehört", muss Konkurs anmelden.
Während Marianne ihre Opferrolle und das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit
verinnerlicht, entgleitet ihrer Familie das Leben mehr und mehr bis sie
schließlich zerbricht.
Fazit
Joyce Carol Oates hat sich in ihren Romanen wiederholt mit Gewalt, ihrer
stillschweigenden Duldung, mit der Opfer-Rolle, dem Thema Strafe, Rache und
Gerechtigkeit auseinander gesetzt. Der Erzähler Judd Mulvaney scheint sich mit
dem Epos seiner Familie schließlich frei geschrieben zu haben. Wir können
seine Entwicklung vom ahnungslosen Nesthäkchen bis zum Erwachsenen verfolgen
und treffen die gealterten Mulvaneys Jahre später anlässlich einer
Familienfeier zum amerikanischen Nationalfeiertag vereint wieder. An der
geschilderten unseligen Verknüpfung aus provinzieller Enge, Religiosität
amerikanischer Prägung und der Anmaßung weniger, entscheiden zu dürfen, wer
dazu gehört und wer draußen zu bleiben hat, scheint sich seit den Siebzigern
wenig geändert zu haben. Judds Einfühlung in seine Eltern und die Geschwister,
aus deren Perspektive er etwas zu ausführlich erzählt, erscheint angesichts
des jahrzehntelangen Schweigens unrealistisch, das Ende des insgesamt zu langen
Familien-Epos kann nicht überzeugen. Dennoch wirkt Oates subtiles Psychogramm
einer Dorf-Gemeinschaft und ihrer Reaktion auf eine Gewalttat in ihrer Mitte so
beklemmend aktuell, dass man beim Lesen eine Gänsehaut bekommt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 08. Januar 2009 2009-01-08 09:32:21