Daß die Revolte von 1968 keiner Heroisierung anheim fallen darf, davon zeugt
die heutige Verklärung derselben durch ihre veralteten, senilen und
bedeutungslosen Repräsentanten. Zwar war die Zeit noch geprägt durch die
Dominanz des kräftigen Zupackens und des theoretischen Denkens des Agitators,
die psychologischen Aspekte der Revolte dahinter jedoch liegen in der Suche nach
Autorität, welche die Provokationselite in Mao, Stalin und Marx fand. Es gab
schon immer die Konkurrenz der Generationen, welche eine wachsende Sensibilität
gegenüber Fragen der Zeit gewinnt. Die Generation der französischen Revolution
vollzieht zuerst den Bruch zur alten Gesellschaft. Krieg und Revolution
zerbrechen Erziehung und Werte des alten Zustands. Damit gelingt die bisherige
Reproduktion der Generationen nicht mehr. Das Motiv der 68er war der Bruch mit
den Eltern. Die Jugend will die Last der Tradition nicht mehr tragen. Das war
der Weg der eigenen Kompensation.
Wolfgang Kraushaar tritt zum vierzigjährigen Jubiläum der Revolte im
vorliegenden Buch mit dem Anspruch an, eine kritische Bilanz dessen zu ziehen,
was 1968 geschah. Er legt damit eine Mischung aus früheren Werken vor. Es
gelingt ihm zugleich, die "Revolte" zu entzaubern und die negativen
Facetten der Neuen Linken, ihre Gewalt, ihren Wahn des Antifaschismus zu
beleuchten. "Wer die 68er Bewegung in ihrer historischen Bedeutung wirklich
verstehen will, kommt um dieses Buch nicht herum." Dies verkündet der
Verlag. Das Buch selbst ist zwar sehr interessant, bietet aber wenig neue
Erkenntnisse, insbesondere fehlen neben einer oberflächlichen Darstellung der
theoretischen Grundlagenwerke Herbert Marcuses oder Karl Marx’ weitere
wichtige Schriften.
So etwa Jürgen Habermas’ "Student der Politik". Immerhin galt
Habermas als geistiger Vater der Revolte. Er eröffnete zudem die Diskussion
über den Zustand der Bundesrepublik mit seinem Werk "Strukturwandel der
Öffentlichkeit" und hatte eine generative Nähe zur Revolte. In seiner
Studie "Student und Politik" über den Bewußtseinsstand der Studenten
fragt er nach der Existenz einer deutschen Elite. Er arbeitet die konservative
Kultur- und Politiktheorie der Weimarer Zeit auf und überträgt sie auf den
Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Liest man sein Buch konzentriert,
so erkennt man, daß Habermas konservative Parlamentarismuskritik praktiziert,
die sich an Carl Schmitt, Helmut Schelsky oder Arnold Gehlen orientiert. - Sie
ist die Basis derselben Kritik, wie sie die Linke übernehmen wird. Die Kritik
der Linken ist konservativ motiviert. Inhaltlich gekürzt: Der historische
Liberalismus bleibt der eigenen Ideologie nicht treu. Die freiheitliche Ordnung
wird schrittweise bei der Akzeptanz des Liberalismus demontiert. Der
Parlamentarismus wird zur Fiktion und endet im Übergang zu einer
bonapartistischen Diktatur. Davon distanziert sich Habermas in opportunistischer
Manier später in seiner Diskurstheorie, aber auch der herrschaftsfreie Diskurs
ist heute kläglich gescheitert - so wie Habermas selbst auf ganzer Linie. Es
gilt unverändert das Recht des Stärkeren, der Autorität und des Machthabers,
dem man sich unterordnet. Dies zu erkennen fiel Habermas wohl selbst nicht
schwer, bedenken wir seine kleinlaute Distanzierung von "Student und
Politik". - Kein Wort zu diesen prekären Zusammenhängen findet sich in
Kraushaars Buch!
Dafür aber bietet es im Prolog eine Darstellung der Beat-und Hippie-Bewegungen
als Vorläufer der "Achtundsechzigerbewegung", erläutert die
Standardgeschichte, wonach das vermeintliche LSD-Stück "Lucy in the sky
with Diamonds" von John Lennon nicht über LSD geschrieben wurde, sondern
die Idee seines Sohnes Julian Lennon, eine malerische Kinderidee, war. Manchmal
scheint es neben interessanten Stellen, als lese man zusammengestellte
Versatzstücke zur Musikgeschichte, die in "1968" gipfelten. Dennoch -
und darin hat der Autor recht - die politisch und gesellschaftlich links
orientierten, antiautoritären, hedonistischen Ansätze der APO haben große
Teile des Establishments stark verunsichert.
Was jedoch kaum zur Sprache kommt ist, daß die ideale Möglichkeit einer
pauschalen Diskreditierung dieser Ansätze in der staatlich geförderten
Initiierung des Abgleitens in die Gewalt bei einem Teil der Szene bestand. Der
Verfassungsschutzagent Peter Urbach, agent provocateur des Westberliner
Landesamtes für Verfassungsschutz - findet nur drei Mal im gesamten Buch
Erwähnung. Aber: Ohne die aufgestachelte RAF und ihre Gewalttaten wären der
Radikalenerlaß und die massive Aufrüstung der Polizei nicht möglich gewesen.
Die Angehörigen der Widerstandsgruppen haben sich in einer außer Kontrolle
geratenen Gewaltspirale für staatliche Maßnahmen instrumentalisieren lassen.
In der RAF werden aus antiautoritären und hedonistischen sowie
emanzipatorischen Kommunarden autoritäre Kämpfer. Es ist als Ausdruck des
politischen Existenzialismus zu werten, daß in der Gewalt der Ausweg gesehen
wurde. Diese politische Romantik ließ keine Reflexion zu. Die politische
Romantik ist das Ende des Denkens, wie es Carl Schmitt schon erkannte. Man endet
in einer existenzialistischen Sektiererei und in einer patriarchalischen Gruppe
mit archaischer Gliederung, die einen Führer bestätigt. Reflektiert wird
nicht; nur der Ekel am System treibt voran.
Kraushaar erwähnt jedoch richtig, daß im Sinne Schmitts Romantik jegliche
Transzendierung des Alltäglichen bedeutet. Unbestreitbar bewegte sich die Neue
Linke 1968 generell in Richtung einer spektakulären Militanz, doch war diese
Entwicklung in eine internationale Kultur der Gewalt eingebettet. "Zwischen
Medien und Militanten existierte so etwas wie ein insgeheimes Bündnis",
schreibt Kraushaar. Leider verharrt der Historiker auch hier an der Oberfläche,
ohne das Zusammenspiel von Medien und Protestbewegung zu analysieren.
Spätestens jetzt wäre es nötig gewesen zu benennen, daß auch die heutige
Gesellschaft so selbstherrlich und dekadent ist, daß sie ihre eigenen
Provokationen - diesmal vorteilhaft integriert im Staatsapparat, den sie
verachtete, feiert. Sie heroisiert die konformisierten und damit vollends
gescheiterten Revolteure, sich selbst und das Jahr 1968. Es herrscht die
Belanglosigkeit ihrer Vertreter in den Medien und es wird kaum noch tiefgründig
reflektiert.
Eine Betrachtung und Reflexion aus wissenschaftlicher Perspektive ist heute
nötig. Die Gesinnungsethik der 68er - eine akosmische Predigt gefüllt mit
ethischem Irrationalismus - hat ausgedient. Die Parallelität dieses
Irrationalismus zum Nationalsozialismus wird mehr als deutlich und bewahrheitet
das Diktum Nietzsches aus "Der Wille zur Macht", wonach sich
Radikalismen einander ablösen. Der radikale Antifaschismus der Besatzer, den
die Generation der 68er übernahm, ist auch nur eine radikale Reaktion auf den
nationalsozialistischen Radikalismus. Moralismus und Kollektivkasteiungen sind
radikale Haltungen, die nicht einem wahrhaftig guten Leben entsprechen. Etwas
moderates wird in das Vakuum stoßen und den deutschen Zustand normalisieren.
Die geläuterten 68er, welche heute die Idee der "Nation" nicht strikt
ausblenden, sind damit dialektisch auf dem richtigen Pfad.
Kraushaar, seit vielen Jahren Mitarbeiter des Hamburger Instituts für
Sozialforschung, tut sich schwer damit, dies zuzuerkennen, obwohl er sich als
scharfer Kritiker der alten 68er-Mythen einen Namen gemacht hat. Er aber bricht
die Reproduktion des immer Gleichen im Denken dennoch nicht überzeugend auf.
Führenden Köpfen der Bewegung mag er seine sogenannte problematische Nähe zur
Gewalt, "antisemitische" oder "nationalistische Tendenzen"
sowie das übliche "unausgegorene Verhältnis zur deutschen
NS-Vergangenheit" nachweisen. Am Ende ist es aber gerade das Denken über
jene verordneten Denkverbote hinaus, das sich nicht leichtfertig mit den
genannten Termini fassen läßt und das die bedeutendere Lehre aus 1968 gezogen
hat. Es hat die neurotische Feindbestimmung im Sinne von "Faschist"
oder "Antisemit" überwunden und dient komplexeren Erkenntnisräumen.
Schon Berichte des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) zur Revolte
von 1968 betonten neurotisches Verhalten bei den Revolteuren. Trotz der
Organisationsstruktur herrsche eine archaische Struktur vor. Die Anarchie und
der kleinbürgerlich- ultralinke Guerillerismus gipfele in einer pseudolinken
terroristischen Organisation, der RAF. Ihr avantgardistischer Anspruch sei
charakteristisch und entspreche in seinem Elitismus nicht den werktätigen
Volksmassen. Es differenzieren sich Anführer, Aktive, Mitläufer heraus, d. h.
um die Anführer paaren sich ein äußerer und innerer Kreis. Der Zusammenhalt
erfolgt über die Ideologie, welche auch das Gruppenmilieu präge. - Die
Ideologie - und da ist der DDR-Analyse recht zugeben - bleibt bestehen. Sie
sucht Feinde, Dissidenten und Verräter, so etwa diejenigen der Revolteure, die
heute konservative Positionen vertreten, dabei aber lediglich auf Schriften wie
diejenige von Habermas rekurrieren, die selbst die konservative
Parlamentarismuskritik der Weimarer Republik für 1968 fruchtbar machte.
So erzeugt die Ideologie aus den wenigen senilen Übriggebliebenen von 1968, die
nicht neue Denkwege eingingen, die Mitläufer und Profiteure des
BRD-Politikalltages. Sie werden zu solchen Gestalten des Politikbetriebes, die
sie früher selbst verachteten. Aufgabe eines zukünftigen Historikers wird es
bleiben, Geschichte nicht als ein ideologisches Framework gehärteter Tatsachen
und definierter Feinde der Sache von 1968 zu verkaufen, sondern Entwicklungen
und Optionen des Denkens aufzuzeigen. Andernfalls hätte die DDR-Analyse in
ihrem Ideologie-Begriff bei 1968 doch recht und die Mitläufer von heute wären
moralisch reingewaschen. Dies trifft aber nicht zu.
Fazit
Das Buch mag eine geeignete Einführung zum Thema 1968 sein, geht aber nicht in
die wissenschaftliche, politiktheoretische und psychologische Tiefe mit all
ihren Konsequenzen für die Gegenwart.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 30. Dezember 2008 2008-12-30 12:26:55