Alle Kinder des ambitionierten Wohnhof-Projekts haben einen berufstätigen Vater
und eine Nur-Hausfrau-Vollblut-Mutter. Nur Loes wohnt mit ihrer beruflich
selbständigen Mutter und "den Lucos" in einer Art Wohngemeinschaft im
alten Pfarrhaus. Jeder der beiden Lucos, Ludo und Duco, zeigt sich als
hinreißender Ersatzvater, von dem ein Kind nur träumen kann. Unter diesen
unkonventionellen Verhältnissen wächst die wilde, temperamentvolle Loes wie
eine niederländische Pippi Langstrumpf auf. Loes interessiert sich nicht allein
für Piraten, sie ist Piratin. Noch ehe Loes 6 Jahre alt ist, hat sie im Ort die
Rolle der Anführerin phantasievoller Abenteuerspiele übernommen. Als Tochter
einer Kinderbuch-Illustratorin ist Loes eine grandiose Geschichten-Erzählerin,
der jeder unbesehen glaubt, dass sie schon einmal von einer Boa verschluckt
worden ist. "Das arme Kind" tönen die anderen Mütter
sensationslüstern. Mit altklugem Unterton erzählt Renate Dorrestein aus der
Wir-Perspektive der Kinder, wie geschickt die jungen Mütter ihre
Unzufriedenheit in der vermeintlichen Idylle der Neubausiedlung verdrängen.
Einziges Gesprächsthema sind die Kinder und der unkonventionelle Lebensstil von
Loes Mutter. Ebenso wie die Kinder ohne Loes nicht wüssten, was sie spielen
sollen, könnten ihre Mütter nicht ohne die schillernde Persönlichkeit der
Kartenlegerin aus dem alten Pfarrhaus sein.
Eines Tages zieht Thomas mit seiner Familie in den kleinen Ort. Loes liebt ihren
neuen Spielkameraden innig - doch ausgerechnet ihre unkonventionelle Mutter hat
Bedenken gegen den Jungen. In der Schule kämpft die erfindungsreiche Loes mit
Problemen beim Lesenlernen. Während alle Kinder schon längst lesen können,
stolpert Loes noch immer über einzelne Buchstaben. Doch es kommt noch
schlimmer. Thomas Vater wird auf makabre Weise ermordet und Loes Mutter als
Täterin verurteilt. Die Lucos sorgen weiter hingebungsvoll für ihre
Pflegetochter. Von hier an erzählt Loes die Geschichte selbst. Sie wird
mittlerweile von ihren Klassenkameraden ausgegrenzt und gemobbt. Wie so häufig
sind Streiche und Lügengeschichten so subtil eingefädelt, dass man den Tätern
kaum etwas nachweisen kann.
Jahre später hat Loes Mutter ihre Haftstrafe abgesessen und sich in der langen
Zeit der Haft von ihrer Tochter entfremdet. Um einen Neuanfang zu wagen, ziehen
Mutter, Tochter und die Lucos auf die kleine schottische Hebriden-Insel Lewis.
Loes Mutter hofft, dass sie hier wieder einen Weg zu ihrer Tochter finden kann.
Loes tut der Neuanfang sichtbar gut, sie ist jetzt 12 Jahre alt, geht in eine
schottische Schule und lebt mit ihrer neuen Clique ein ganz normales Leben. Als
Loes sich zum ersten Mal und noch sehr scheu für einen Jungen interessiert,
wird deutlich, dass Loes und ihre Mutter offensichtlich das Schweigen über die
damaligen Ereignisse verbindet. Über die Ermittlungen zum Tod von Thomas Vater
gibt es deutlich mehr zu berichten, als die Leser bisher erfahren konnten. Als
in den Sommermonaten niederländische Touristen auf die Insel kommen, wird Loes
erneut mit dem Mordfall aus ihrer Kindheit konfrontiert.
Fazit
Dorresteins fesselnder Roman "Das Erdbeerfeld" verbindet einen
ungewöhnlichen Mordfall mit dem Heranwachsen einer jungen Frau. Renate
Dorrestein erzählt konsequent aus der Perspektive von Kindern. Sie trifft
exakt den Ton kindlicher Erzähler, die Gespräche Erwachsener mit angehört
haben und noch nicht alles begreifen, was sie weiter erzählen. Zu Beginn des
subtil konstruierten Psycho-Thrillers sind die Erzähler noch Kleinkinder,
deren Ausdrucksfähigkeit sich mit der Einschulung weiter entwickelt. Die
Erzählperspektive wechselt zu Loes als Zwölfjähriger und weiter zur
erwachsenen Loes, die wieder allein mit ihren Ersatzvätern lebt, nachdem ihre
Mutter die Insel verlassen hat. Auf Atem beraubende Art enthüllt das Buch zudem
Mechanismen des Verdrängens, Verleugnens und Ausgrenzens in einer
vordergründig idyllischen Gemeinschaft.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 28. Dezember 2008 2008-12-28 12:01:41