Als Adam Ewing in der Mitte des 19. Jahrhunderts Tagebuch führte, schrieb man
Thür und Thor noch mit th. In Stil und Rechtschreibung seiner Zeit berichtet
der amerikanische Jurist, wie Weiße auf einer der Gesellschaftsinseln
Polynesiens Eingeborene ausrotten. 1931, fast einhundert Jahre später, wird
Ewings Tagebuch von Robert Frobisher gelesen, der in Flandern für einen
Komponisten arbeitet. Frobisher, Komponist des Wolkenatlas-Sextetts, berichtet
über seine Tätigkeit in Briefen an einen Rufus Sixsmith. 40 Jahre später
versorgt dieser Rufus Sixsmith, von Beruf Physiker, Luisa Rey, eine
Journalistin der kritischen Zeitschrift Spyglass mit brisanten Informationen
über Kernkraftwerke. Sixsmith ist nebenbei mit der Lektüre der Briefe
Frobishers beschäftigt. Als Sixsmith unter verdächtigen Umständen ums Leben
kommt, bezweifelt Luisa, dass der Wissenschaftler sich - wie behauptet - das
Leben genommen hat. Auf Swanneke Island versammeln sich Umweltaktivisten, um
gegen einen neuen Typ Kernkraftwerk zu demonstrieren. Die Kernkraft-Befürworter
kämpfen mit harten Bandagen, bringen Flugzeuge zum Absturz und lassen harmlose
Gepäckschließfächer explodieren. Der Verleger Cavendish (Luisas Chef) wird
angeblich gegen seinen Willen von seinem Bruder in einem Altenheim gefangen
gehalten. In dieser Nebenwelt sind die Bewohner sehr viel weniger senil, als
ihre Angehörigen glauben und schmieden gemeinsam konspirative Fluchtpläne.
Cavendish ist es, der sich einen Atlas der Wolken wünscht, eine Landkarte des
für immer Flüchtigen.
In einem weiteren Handlungsstrang lernen wir in Korea eine Sekte unter Führung
des "Papa Song" kennen. Eine Elite der "Reinblüter"
befehligt dort die Masse geklonter Duplikanten. Sonmi, eine dieser
Duplikantinnen, bereitet ihrer Führung Schereien damit, dass sie plötzlich
zum Fühlen und zum selbständigen Denken fähig ist und das Gesellschaftssystem
in Frage stellt. Nach dem Ende der uns bekannten Zivilisation haben in der Welt
der Duplikanten allein Markennamen überlebt, die gewohnte Ordnung ist
vermutlich durch die Dekadenz einer Gesellschaft ohne ethische Normen zugrunde
gegangen. In der Zukunft gehören die wenigen Überlebenden einer
Atomkatastrophe zu Zachrys Stamm der Ziegenhirten, der auf Hawaii lebt und sich
mit Ziegen vermutlich besser verständigen kann als mit Menschen. Welch Zufall,
dass der außer Zachrys Clan einzig überlebende Nachbarstamm einen Gott namens
Sonmi verehrt.
Fazit
Mitchells in verschiedenen Epochen und auf unterschiedlichen Kontinenten
angesiedelte Handlungsstränge sind dezent miteinander verknüpft zu einem
detailreichen, sehr zivilisationskritischen Roman. Mitchell erweist sich als
mitreißender Erzähler und listiger Kritiker. Jeder - von der in den Ruin
privatisierten British Rail bis zur Literaturkritik ("Kritiker sind schnell
und überheblich, aber niemals klug") - bekommt von ihm sein Fett weg. Wie
Cavendish wünscht man sich als Leser ab und zu eine Landkarte dieses komplexen
Handlungs-Geflechts oder wenigstens eine Besetzungsliste. Doch Mitchells
Szenarien sind nicht ganz so verwirrend, wie es zunächst scheinen mag. Der
Autor gibt jedem Erzähler eine unverwechselbare, sehr authentisch wirkende
Stimme und parodiert dabei unterschiedliche Literatur-Formen. So wie die Fotos
von Wolkenformationen und Wetterkarten sich auf dem Titelbild zu einer Collage
zusammenfügen, bilden die einzelnen Teile des "Wolkenatlas" einen
faszinierenden Flickenteppich aus Ereignissen der Vergangenheit, der Gegenwart
und der Zukunft.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 22. Dezember 2008 2008-12-22 12:49:40