Bei dem Begriff Masse denkt man an das Gestaltlose, Amorphe, das erst durch
äußere Entwicklung geformt wird. Dazu gibt es Politiker, Demagogen und
Propagandisten. Sie übernehmen diese Aufgabe. "Die Masse ist das Ende, das
radikale Nichts." - Dies sagte einst Oswald Spengler, der den Schwund der
Kultur des Abendlandes diagnostizierte. Auch für Le Bon, Autor des vorliegenden
Buches, steigen und fallen Kulturen mit dem Schwund der schöpferischen Wirkung.
Es bleibt eine Menge allein stehender Einzelner übrig, getragen von
Impulsivität, Sugestibilität, Intoleranz, Wandelbarkeit. Die agierenden
Mitglieder einer Masse sind Scheintote, gehorsame Medien noch mächtigerer
Medien und in diesem Sinne - Zombies medialer Einflüsterung. Sie werden zu
einem Fall des suggestiven Somnambulismus.
Le Bon stellt sich die Frage: Wie kommt es, daß sich Menschen für Ideen
begeistern lassen, die sie kaum verstehen können? Warum lassen sie sich von
politischen Strömungen blind mitreißen, hängen heute diesem und morgen jenem
Anführer an, ohne nachzudenken? 25 Jahre später legte er seine Gedanken zu
diesem Thema in diesem Hauptwerk "Psychologie der Massen" nieder. Man
kann Le Bon im Zeitalter der Massenmedien und der Massenkultur manchmal eine
erstaunliche Treffsicherheit und Aktualität bescheinigen - einige seiner
Analysen könnten auch aus dem 21. Jahrhundert stammen.
Den Sozialismus betrachtete er als Negation der Kultur. Gleichheit senke das
Niveau überhaupt und es komme zur Wirkung die trübe vulgäre
Mittelmäßigkeit. Das berühmte, in alle Weltsprachen übersetzte Buch des
französischen Arztes und Soziologen über die Seele der Massen und die Gesetze
ihrer Beeinflussung und Führung hat sich - trotz oder auch wegen mancher
provozierender These - über Jahrzehnte hinweg und bis in die Gegenwart hinein
als eine der stärksten Anregungen für Psychologie und Soziologie erwiesen. Es
kann sogar heute neue Impulse setzen. Der Anteil des Unbewußten am Handeln ist
für Le Bon sehr groß beim Handeln des Menschen und der Anteil der Vernunft nur
sehr klein. Die Massen haben sich aber dennoch für ihn zur Macht erhoben. Die
Stimme des Volkes habe das Übergewicht erlangt. Je weniger Masse zur
vernünftigen Überlegung fähig ist, um so mehr sei sie zur blinden Tat bereit.
Sie werden die Könige ersetzen und sich nicht mehr von Vernunft leiten lassen -
so die Befürchtung Le Bons, die eine Angst davor erkennen läßt, dass die
bewußte Persönlichkeit zugunsten der Gemeinschaftsseele verschwindet. So
unterliege das Geschehen dem psychischen Gesetz der Einheit der Massen. In der
Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten, das
Ungleichartige versinkt im Gleichartigen und unbewußte Eigenschaften
überwiegen. Kurz: Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die
Mittelmäßigkeit in sich auf.
Aber auch Sittlichkeit bescheinigt der Autor den Massenbewegungen. Aufopferung,
Hingabe und Uneigennützigkeit können hervorbrechen, wenn sie sich auf Ehre,
Vaterland und Ruhm berufen. Die Grundideen der Massen könne man sich als
Wassermasse eines dahinströmenden Flusses denken, die flüchtigen Ideen als die
kleinen, immer wechselnden Wellen, die seine Oberfläche erregen und, obwohl von
geringerer Bedeutung, viel sichtbarer sind.
Heute, wo das Aushorchen der Meinungen Hauptsorge der Medien ist, heute verliert
jede Meinung durch mediale Erörterung ihren Nimbus. Eine energische Parteinahme
ist so kaum mehr möglich. Der moderne Mensch fällt der Gleichgültigkeit
anheim. Das ist die Entartungserscheinung im Völkerleben, eine Tendenz, die Le
Bon so beschreibt: "Massen fallen in den Zustand einfacher Automaten
zurück." Le Bon, Mitbegründer der sozialen Psychologie, kann anhand des
dargelegten als ein bedeutender Völkerkundler, Archäologe und Soziologe
gelten. Er vertrat die Idee einer intellektuellen Elite als Motor des
Fortschritts. Er hat wesentliche Mechanismen der modernen Politik erkannt.
Diese lassen sich so zuspitzen:
1. Der Wähler hält darauf, daß man seinen Begierden und Eitelkeit
schmeichelt, und dies macht sich die Politik zunutze.
2. Die Massen haben nur eingeflößte, nie vernünftige Meinungen.
3. Zusammenhalt und Stärke schwinden, wenn die unabhängige Denkkraft dnd
Vernunft schwindet. - Die Tatkraft verringert sich. Es entsteht ein Haufen
zusammenhangsloser Einzelner, der nur noch künstlich durch Überlieferungen und
Einrichtungen zusammengehalten wird - und Waren konsumiert.
Fazit
Le Bons Beobachtungen sind einzigartig. Sie sind zeitnah und lesen sich nach wie
vor als aktuelle und damit als nachweisliche zeitlose Analyse des sozialen
Verhaltens.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 13. Dezember 2008 2008-12-13 13:57:44