Der große Aufzug der Charaktere, die nach ihrem Leben suchen, um es zu
verwirklichen, ist das Lieblingsthema des verkannten Philosophen Julius Bahnsen
aus dem deutschen Lauenburg in Pommern. Es liegt nach Bahnsen selbst in den
Charakterunterschieden der Völker, was einige zu historischen Völkern macht
und andere in der Anonymität des Lebens untergehen läßt. Als Schüler
Schopenhauers wagte Bahnsen eine Verbindung Hegelscher Dialektik mit
Schopenhauerschem Monismus. In dieser Verbindung wird zwar der vernunftlose
all-eine Wille Schopenhauers als das Grundwesen der Welt und das einzig Reale
akzeptiert, jedoch nicht, daß dieser Wille in den Individuen derselbe sei,
sondern selbst ebenso vielfach wie diese Individuen, deren unveränderliches
Wesen in ihrer unveränderlichen Willensnatur, in ihrem Charakter, besteht. Der
Schopenhauersche Wille wird somit nicht nur in sich, sondern auch außer sich in
eine Vielheit von Einzelwillen gespalten.
Ausdruck dieser Lehre, die erste charakterologische Studie noch vor den heute
oftmals bekannteren Schriften Ludwig Klages, ist der vorliegende Band. Es finden
sich hier die ausformulierten Gedanken der Realdialektik Bahnsens, eine
gleichsam bedeutende Ontologie der Differenz. In ihr modifiziert er den
schopenhauerschen Willen zur unendlichen Individuation und gibt damit der
Individualität eine metaphysische und multiple Realität. Kurz: Der Charakter
und sein Wille sind individuelles und zerrissenes Wesen. Bahnsen weist die
Tatsache nach, daß im Einzelnen der menschliche Charakter von schweren
Widersprüchen grundiert ist, die ihn zerreißen. Kern dieser
charakterologischen Seite seiner Lehre, die Ausgangspunkt für die Arbeiten
solcher Philosophen wie Ludwig Klages war, sind Bahnsens erstmals wieder
herausgegebene und hier besprochene "Beiträge zur Charakterologie"
(1867). Da das Wesen der Unvernunft im Widerspruch, jenes des unvernünftigen
Willens insbesondere in dem gleichzeitigen Bestehen einander anschließender
Willensrichtungen, besteht, folgt, daß nicht nur die Realität ein
ununterbrochener Kampf realer Gegensätze ist (Realdialektik), sondern auch das
Innere jedes Individuums unlöslichem Zwiespalt entgegengesetzter
Willensrichtungen (Willenskollision) verfällt. Es ist dies ein Buch, das zu
unrecht bisher kaum wahrgenommen wurde, und über dessen Autor Nietzsche schon
urteilte:
"Wir müssen uns unsere philosophischen Freunde etwas zusammensuchen. Auch
Bahnsen (...) steht auf der Liste."
Bahnsen negiert eine Erlösung der unzähligen "Willenshenaden" und
postuliert die Permanenz der Existenz des Widerspruchs als Grundwesen der Welt,
wodurch das Gesetz dieser Welt zur tragischen Weltordnung wird. Der ganze
Inbegriff seiner Realdialektik kommt in seiner Charakterologie zum Ausdruck. -
Dieser ließe sich auch auf folgenden Punkt bringen:
All the world to nothing!
Die realdialektische Seite seiner Lehre hat Bahnsen zudem in der Abhandlung
"Zur Philosophie der Geschichte" (1871) und in seinem Hauptwerk
"Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt" (1880/82)
niedergelegt. Über die Noblesse als Charaktereigenschaft meint er: Sie
"ist eine Spielart des Edelsinns; ein zartes Töchterchen des Gemüthsadels
und der Hochsinnigkeit. Ihr vollster Widerpart heißt kleinliche
Gemeinheit." Er ordnet ihr einen Menschentypus zu, die von einer gewissen
Großartigkeit geprägt sind, in der Art, die Menschen und die Welt so zu
nehmen, wie sie ist. Selbst das Irdisch-Kleinliche wird durch solche Charaktere
nobel behandelt und verliert seinen Beigeschmack des Schmutzigen. Eine Haltung
also von echter "Gemüthspoesie". Und ist der Mensch am Boden
zerstört, weiß der Autor dies zu bewerten: "In unseren schwachen Stunden
sind wir durchweg wahrer als in unseren starken - man heuchelt und simuliert in
jenen nicht." - Alles in allem ein vortreffliches Werk der Philosophie, des
Mut-Machens trotz irdischen Irrsinns und der menschlichen Selbsterkenntnis
inklusive aller möglichen Launen, unter denen wir wesentlich von der
pessimistischen und misanthropischen Laune gemäß Bahnsen mit etwas Humor
folgenden Reim verinnerlichen sollten:
Fazit
"Ich finde alles miserabel
Das Menschenvolk mich ennuyiret
Und selbst der Freund, der sonst passabel."
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 07. Dezember 2008 2008-12-07 18:07:18