Kernig hat mit diesem Buch eine hervorragende Analyse des Zerfalls der früheren
UdSSR vorgelegt und für mich auch überzeugend begründet, dass auch in
absehbarer Zukunft nicht mit einer schnellen Besserung der wirtschaftlichen
Verhältnisse in Russland zu rechnen ist. Kernig weist anhand profunder Analysen
und empirischer Daten nach, dass die Ursache des Zerfalls der früheren UdSSR
letztendlich darin zu suchen ist, dass die UdSSR über ihre Leistungsfähigkeit
hinaus sich totrüstete und außerdem im Zustand der Industriegesellschaft
verharrte, während die westlichen Staaten auf dem Level der
Dienstleistungsgesellschaft angekommen waren. Phänomene wie Schattenwirtschaft
und mafiotisches System werden ebenfalls hervorragend erläutert. Als Quellen
benutzt Kernig hauptsächlich Primärliteratur beteiligter Personen, etwa die
Memoiren Gorbatschows und der - leider noch nicht ins Deutsche übersetzten -
Memoiren von Jegor Ligatschow, dem Rivalen und langjährigen Zweiten
ZK-Sekretaer unter Gorbatschow. Vernichtend fällt Kernigs Urteil über Boris
Jelzin aus: Er habe die Sowjetunion nicht wirklich reformieren wollen, sondern
lediglich über den Untergang der UdSSR an die Macht kommen wollen. Putin, so
diagnostiziert Kernig, sei lediglich ein Produkt der Oligarchen (hier stimme ich
ihm nicht zu); der Tschetschenien-Krieg habe ihm geholfen, mittels patriotischer
Stimmungen und ohne Programm an die Macht zu kommen. Ob der russische
Inlandsgeheimdienst die Anschläge in Moskau und anderen Städten selber
verursacht habe, die zum 2. Tschetschenien-Krieg führten, wagt Kernig nicht zu
bewerten. Dies solle zukünftigen Historikern überlassen werden. Ähnlich wie
Wilhelm Hankel in seinem Buch "Das grosse Geld-Theater" stellt Kernig
fest, dass es kein funktionierendes Geld-, Banken- und Kreditwesen in der
früheren UdSSR und im heutigen postsowjetischen Russland gab und gibt. Der
Staat müsse eine Währungs-Reform durchführen, um zu hartem Geld zu gelangen,
die Produktion müsse schrittweise zur Vermarktung freigegeben werden. Doch die
wenigen Äusserungen Putins liessen schlimmes erwarten: seine Äusserungen
weckten Erinnerungen an die Zeit unter Breschnjew, während der - wie in der
gesamten früheren UdSSR - Militürs und Rüstungsindustrie den Ton angaben.
Hervorragend ist, wie gründlich Kernig, Professor für Politikwissenschaft an
der Universität Berlin mit Forschungsschwerpunkt Sowjetunion, die vorhandenen
Primär- und Sekundärquellen auswertet. Außerdem schreibt er in
verständlichem Stil, so dass - dies ist der eigentliche Wert des Buches - die
langfristigen Ursachen des Zerfalls der UdSSR jenseits aller tagespolitischen
Ereignisse sichtbar werden.
Fazit
Ein hervorragendes Buch; für mich das beste, welches ich in den letzten Jahren
zu diesem Thema gelesen habe.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 27. April 2003 2003-04-27 14:59:01