Wer kennt ihn nicht, den Film: "Das Experiment" mit Moritz Bleibtreu
in der Hauptrolle? Er berichtet, wie Menschen in einer Extremsituation reagieren
und wie die Gruppendynamik wirkt: geregeltes Leben gerät plötzlich außer
Kontrolle und es existiert ein psychischer "Ausnahmezustand".
An diesen Film - der auf ein wahres Experiment aus den 1970-ger Jahren
zurückgeht - fühlte ich mich beim Lesen des vorliegenden Romans von Gabathuler
stark erinnert.
In der Oberstufe eines Internates gibt es in einer Klasse extreme Spannungen
zwischen den Schülern. Um diese abzubauen und den Schülern das Gefühl zu
geben, zu einer Gemeinschaft, die füreinander einsteht, zu gehören, startet
die Klassenlehrerin, Frau Kramer, ein Projekt. In Viererteams - gleichbesetzt
mit Jungen und Mädchen - sollen ungewöhnliche Aufgaben bewältigt werden.
So werden auch die völlig unterschiedlichen Charaktere Jessie, Tina, Alex und
Michael in eine Gruppe zusammengewirfelt. Ein sehr explosiver Mix entsteht, denn
gegensätzlicher können vier Schüler nicht sein. Niemals würden sie
freiwillig zusammenarbeiten.
Das Buch wird aus Sicht der vier Schüler aus wechselnder Perspektive
beschrieben. Alex, der immer den "Coolen" spielt und bestehende
Verbote - etwa das Rauchverbot im Internat - ignoriert und sich mehrere Verweise
einhandelt, Tina, die äußerst dick, introvertiert, schüchtern und daher
Außenseiterin ist, Jessie, die zwar beliebt, jedoch auch als eingebildet und
snobbistisch gilt und der stille Michael, der von seinem Vater geschlagen wird -
ein Geheimnis, welches erst nach und nach gelüftet wird, schaffen es im
Gegensatz zu den drei anderen Gruppen nicht, ein schlüssiges Konzept für die
vierwöchige Projektwoche zu entwickeln. Daraufhin beschließt die Klasse, die
vier Schüler für eine Woche in unzugänglichen Bergpässen in einem Hotel
auszusetzen. Dort sollen sie sich kennen lernen und miteinander einen
"Ausnahmezustand" erleben. Doch dort geraten sie in ernste
Gefahr...
Dieser Jugendroman behandelt so ziemlich alle Themen, die Jugendliche in diesem
Alter interessieren könnten: Drogen, sexueller Mißbrauch, Gewalt,
Freunschaften, Feindschaften, Liebe und Hass.
Das Besondere an diesem Buch ist meines Erachtens, dass es atemberaubend
spannend erzählt ist und die Charaktere lebensecht und glaubwürdig dargestellt
sind. Man merkt, dass die Autorin - durch zwei weitere Jugendkrimis der
"Labyrinthe-Reihe" des Thienemann-Verlages bereits hervorgetreten -
als Lehrerin gearbeitet hat und Jugendliche - mit ihren Interessen, Sehnsüchten
und Lebenseinstellungen - kennt. Man kann nicht aufhören, zu lesen und wird von
dem Buch am Ende zutiefst nachdenklich zurückgelassen.
Dennoch gebe ich nicht die volle Punktzahl. Zu viele Fragen blieben mir am Ende
offen. Die Kriminalhandlung am Ende - den letzten 50 Seiten des Romans -
erscheint mir arg aufgesetzt, die Handlung ab dieser Stelle zu unrealistisch?
Ist es möglich, dass die Lehrerin, die dieses Projekt startet, erst so spät
eingreift und die Konsequenzen ihres Handelns erst so spät bemerkt? Ist ihr
Verhalten nicht - wie es auf S. 265 heißt - wirklich
"verantwortungslos"? Ohne Einzelheiten in dieser Rezension verraten zu
wollen, erscheint mir genau dieses letzte Viertel des Romans - die Krimihandlung
- zu unrealistisch zu sein; als ob die Autorin hier mit aller Gewalt etwas
hätte "draufsetzen" wollen? Die Parallelen zu dem oben genannten Film
mit Moritz Bleibtreu oder anderen Büchern dieses Genres - etwa Goldings:
"Herr der Fliegen" - sind mir zu offensichtlich.
Fazit
Wenn man von diesen Einwänden jedoch absieht, ein spannendes Buch, welches
durch die Glaubwürdigkeit der Charaktere, eine atemberaubende Handlung und eine
lesbare Sprache überzeugt.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 30. November 2008 2008-11-30 13:33:49