Die Urgestalt des Mythos als objektives, aber heute nicht mehr für jedermann
wahrnehmbares Weltgefühl, ist reine, wahllose und unbewußte Schöpfung. Seine
immanenten Wahrheiten stehen fest und zwar zeitlos, absolut, das bedeutet
abgelöst von Schicksal und Geschichte, abgelöst aber auch von den Tatsachen
unseres eigenen Lebens und Sterbens. Die unberechenbaren Geschehnisse der
Tatsachenwelt werden dadurch entwertet und überwunden. Das inhaltliche Wort des
Mythos ist eine Wirklichkeit in dem Maße, wie sie es außerhalb unserer selbst
ist. Sie hat sich von unserem Willen loszulösen. Der engagierte,
tatsachenorientierte Mensch ist dazu berufen, die Wirklichkeit zu gestalten und
zu erkennen, indem er solche Symbole gezielt erschafft. In der determinierten
Zeit irdischen In-der-Welt-Seins kann so ein Symbol der Ewigkeit erschaffen
werden, das einen Fixpunt für weitere Generationen zu bieten in der Lage ist.
Joachim Werneburg schafft in seinen Gedichten für Thüringen immer wieder eine
Mythologie in Geologie, Pflanzen- und Tierwelt. Sie ist entkoppelt vom lediglich
Subjektiven und schafft eine eigene Welt, eine neue und ewige Wirklichkeit, die
das irdische Beschränktsein transzendiert. Er entwarf poetische Exkursionen in
die vorgeschichtliche, mittelalterliche Zeit und entdeckte diesen Landstrich im
schöpferischen Konflikt zwischen slawischen Einwanderungen seitens der Wenden
und westlichen Eroberungen, wie die der Merowinger. Den DDR-Zeitgeist hielt er
in einigen Epigrammen fest ("Thüringer Meer").
In diesen Zusammenhang gehört auch das vorliegende Werk mit Sammlungen von
Gedichten. Der enthaltene Zyklus "Die Felswand von Lioux"
beispielsweise führt sogar noch weiter: in die Provence. Der Kampf des Lichts
gegen das Dunkel zeigt sich im Sandstein an der Felswand, aber auch in den
Bildern des ungarischen Malers Victor Vasarely, die in der kleinen Stadt Gordes
gezeigt werden. Für den Tod des Lichts steht das Schicksal des Troubadours
Guilhem de Cabestanh, für die Wiedergeburt dagegen ein Quell in der
Kalksteinhöhle. Und Zikaden berichten von der Niederlage der Waldenser, die
gegen den Vatikan eine Lichtreligion durchsetzen wollten. Der Titelzyklus
"Das Zeitalter der Eidechse" bestellt seine Akteure auf den
Riechheimer Berg bei Erfurt - wieder in die thüringische Heimat. Hier sind -
neben der kleinen Echse - Schaf, Hase und ein Maulwurf Träger der Handlung.
Deren Wirken deutet - fast schon im Sinne eines Tierkreises - die
Menschheitsgeschichte an.
Es ist freilich im allgemeinen richtig, daß die Sprache für uns dichtet und
denkt, d.h. daß sie die fragmentarischen oder gebundenen Impulse unseres
eigenen Wesens aufnimmt und zu einer Vollkommenheit führt, zu dem diese, auch
rein für uns selbst, sonst nicht gelangt wären. Werneburg führt mit seinen
dichterischen und sprachlichen Mitteln den Leser hin zu einem Mythos, zu einer
Vollkommenheit, so daß man bei ihm selbst die Sprache gelegentlich wie eine
fremde Naturmacht, die nicht nur unsere Äußerungen, sondern auch unsere
innersten Bedürfnisse und ihre übermannende Kraft ergreift, wahrnimmt. Das
Bild der Natur bleibt tragend - so wie die vorliegenden Gedichte den Leser in
eine entrückte Welt tragen. -
Aus dem Gedichtzyklus "Die Felswand von Lioux":
"Lavendel
Den Bauern treff ich unterm Olivenbaum.
Bedächtig nickt er
und weist nach dem lila Felde.
Jetzt haben wir die heißeste Sonne hier,
im Heumond muß der
Lavendel geerntet werden.
Die Blüten sind mit Säften nun angefüllt.
Die Pflanze sendet
im Hause noch lang den Duft aus.
Den Schnitter rufe ich, denn ich möchte auch
in diesem Winter
den Wein bei dem Nachbarn kaufen.
(...)
Bevor nun dunkle Erde vom Felde bleibt,
Lavendel sich in
die Münze des Bauern wandelt,
Merk ich auf einen Engel im lila Feld,
der Goldstück-Worte
dem dürftigen Wandrer zuwirft.
Tief atme ich sie ein, es ist Erntezeit,
und einzufahren
hab ich die gewürzten Sprüche."
Fazit
Ein Muss für Liebhaber von ergreifender Lyrik.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 30. November 2008 2008-11-30 12:22:13