An den Wänden reihten sich edle Bücherschränke. Auf Tischen lagen besonders
schöne Bücher. Neben einer antiken Büßte befanden sich noch weitere edle
Exemplare. In dieser bibliophilen Umgebung trifft der Dichter Rainer M. Rilke
(1875-1926) am 2. Oktober 1910 auf Friedrich Norbert von Hellingrath.
Von diesem gibt heute kaum noch ein Buch Kunde. Seine überlieferte
grüblerische Natur und die gewisse innere Schwere seines Wesens stünden dem
heutigen Leser wohl auch nicht gut an. Dennoch! Das vorliegende Buch stellt dem
Leser Hellingrath vor, in bisher nicht gekannter und detailreicher Weise, und
zwar anhand bisher ungedruckte Zeugnisse seiner kurzen Freundschaft mit Rilke im
Zeichen Hölderlins vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs. Trotz des nicht
geringen Altersunterschiedes zwischen beiden erwies sich die Begegnung beider im
Oktober 1910 als epochemachend. Denn Hellingrath ist in den Augen Rilkes der
"Hölderlin-Lehrmeister". Er wird zum Mentor in allen Fragen über den
Dichter der Deutschen. Der junge Hellingrath erfuhr indes die Möglichkeit, sich
gleichberechtigt und vertrauensvoll dem dreizehn Jahre älteren Dichter Rilke
anzuschließen. Seine bisher unveröffentlichten, von Zuneigung getragenen
Charakteristiken und sein kluges, bisweilen auch kritisches Urteil beeinflussten
die Rilke-Rezeption und repräsentieren eine Freundschaft ganz besonderer Art.
Hellingrath selbst schreibt wenige Wochen nach dem ersten Treffen: "Rilke
hab ich sehr lieb gewonnen, aber abgesehen von dem Altersunterschied und meinem
ewigen dummen Gefühl, überflüssig zu sein, was wollen wir uns geben?" -
Eine Menge! Und genau davon zeugt der vorliegende Band, welcher den Kontext der
Briefe beider akribisch genau wiedergibt und zur Fundgrube für den
Interessierten wird. Der Initiator der ersten kritischen Hölderlin-Ausgabe,
Hellingrath, eröffnet dem Dichter Rilke den einmaligen Zugang zu Person und
Werk des "Herrlichen". Seine eigene Dichtung und deren Stil wurde
maßgeblich beeinflußt. Das Hölderlin-Projekt der Herausgabe der Gesamtausgabe
Hölderlinscher Schriften wurde von Hellingrath dauerhaft und fleißig
vorangetrieben. Es war ihm eine Form der Selbstverwirklichung. Es ward ihm Teil
seiner selbst, so wie einst Johann Gottlieb Fichte seine Wissenschaftslehre
mehrmals umschrieb in der Angst, zu sterben, ohne die optimale Version derselben
der Nachwelt hinterlassen zu haben. Unermüdliche Wochen und Stunden der Arbeit
verbrachte Hellingrath in der Münchner Staatsbibliothek an den dort gelagerten
Hölderlin-Handschriften im Jahre 1911. Am 1. November schreibt er an Rilke,
daß er sich über dessen an ihn gerichteten Hölderlin-Verse sehr gefreut habe.
Diese hatte Rilke eigens für Hellingrath verfaßt.
Die im Buch enthaltene Korrespondenz wird in chronologischer Folge um gedruckte
und ungedruckte Bemerkungen aus Tagebüchern und Briefen an andere Adressaten
sowie um zugehörige Aussagen Dritter ergänzt. Erst vor dem Hintergrund solcher
direkten und indirekten Spiegelungen kann sich das Bild dieser besonderen
Freundschaft entfalten, die bis zuletzt im Zeichen Hölderlins steht.
Desgleichen werden alle Zitate genau ausgewiesen. Zudem enthält der Band im
Anhang den Briefwechsel, den Rilke mit Hellingraths Braut Imma von Ehrenfels in
den Jahren 1917 und 1918 führte - als der Gatte nicht mehr unter den Lebenden
weilte. Rilke wurde im Ersten Weltkrieg zur österreichischen Armee eingezogen,
wurde aber aufgrund seiner kränklichen Konstitution in das Wiener Kriegsarchiv
versetzt. Er starb nach langer Krankheit in Val Mont bei Montreux.
Am 4. August 1914 meldet sich Hellingrath als Freiwilliger für den Krieg. Er
erleidet zu Beginn einen Reitunfall im Feld und zieht sich dabei eine Verletzung
am Knie zu. Pflichtbewußt und voll der Schaffenskraft mit Blick auf sein
Projekt über den "Hölder", stellt er sich mit zwei
Hölderlin-Vorträgen für die Kriegshilfe zur Verfügung, um von Daheim aus
wirken zu können. Es folgen die zwei berühmten Vorträge Hellingraths, die
folgendermaßen proklamiert werden:
"Die Kriegshilfe für geistige Berufe veranstaltet am Montag den 15.
Februar in ihren Räumen, Ludwigstraße 4 einen Vortragsabend über Hölderlin
und die Deutschen, Dr. Norbert von Hellingrath wird nach einleitenden
Ausführungen Gedichte Hölderlins vorlesen, die zum Teil unveröffentlicht
sind. Karten zu 2 Mark bei Littauer, Odeonsplatz, und an den Abendkassen. Anfang
8 ¼ Uhr pünktlich."
Bei diesen Vorträgen entfaltet Hellingrath seine entwickelten Gedanken über
Hölderlin und die Deutschen. Zu den begeisterten Hörern seiner Vorträge
zählen auch Ludwig Klages, Alfred Schuler und Karl Wolfskehl. - Die Versetzung
Hellingraths an die Westfront erfolgt 1915. Anfang November 1916 rückt
Hellingraths Einheit aus den Vogesen über Straßburg nach Verdun vor.
Müde des ewigen Lauerns in der Stellung und der nervenaufreibenden
Verdrießlichkeit seiner Kameraden, des siechenden Müßiggangs ohne Tathandlung
- angewidert von all diesem, meldet er sich am 10. Dezember 1916 freiwillig als
Beobachter in die Feuerstellung nach vorn. Am 14. Dezember beobachtete er in
vorderster Linie das Feuer. Er wurde soeben von seinem Posten abgelöst. Es
trifft ihn in diesem Moment ein Volltreffer! - Keine Spur, kein Grab. - Tod
durch Granatschuß ergeben die nachfolgend angestellten Forschungen.
Rilke konnte die Meldung von seinem Tode nicht verborgen bleiben. Er denkt an
Hellingrath in stiller und ergriffener Trauer. Mit der Hölderlin-Lektüre zur
Hand verbringt er im Gedenken an seinen Freund Hellingrath den Jahreswechsel
1916/1917. Ernst Jünger, Herausgeber des Werkes über gefallene deutsche
Größen aus der intellektuellen Welt, schreibt im edlen Bande "Die
Unvergessenen" (1928): "Ein preußischer Infanterieleutnant hat
später erzählt, daß er, im Krieg an Tapferkeit und Bravour gewohnt, sich
gewundert habe über die Ruhe und Kaltblütigkeit Hellingraths im stärksten
Feuer, seine Gleichgültigkeit gegen alle Gefahr. Man versteht nach alle dem:
Dieser 28-jährige, erschüttert von der geistigen Umwälzung der Welt, hatte
den Tod nicht zu fürchten. Vielmehr: Wie Hölderlins Empedokeles hat er diesen
Tod der Vernichtung bejaht als eine tiefere Heimkehr."
So hat für den Rückblickenden das Zusammentreffen Hellingraths mit Hölderlin
eine tiefere zwingende Notwendigkeit. Das Bild, das er Deutschland von seinem
eigentlichen Dichter geschenkt hat, trägt unverkennbar Züge seiner selbst. Es
ist das Bild intellektueller Rechtschaffenheit bis hin zu unerschrockener
Selbstverzehrung - im Krieg oder in Weltabgewandtheit - auf Basis eigener
philosophischer Einsichten. Rechtschaffender haben Philosophen und Dichter kaum
handeln und leiden können. Hölderlin, so wie Hellingrath ihn sah, war der
Seher und Verkünder deutschen Schicksals, das er selbst nicht erleben durfte. -
Trotzdem: Dies war ohne Zweifel gerade im Sinne des Hölderlin-Lehrmeisters, der
noch im Kriege niederschrieb:
"War es zuerst schwer, sich an den Gedanken, dann sich an die Wirklichkeit
des Krieges zu gewöhnen, es wird gerade für mich sehr schwer sein, mich in den
Frieden zu finden. Ich schaudere vor der Welt voll Plunder und der nicht mehr
liebreich vom Krieg mir abgenommenen Zukunft." - Keine Frage: Das Schicksal
Hellingraths und Hölderlins war zwingende Notwendigkeit - und für beide
tiefere Heimkehr!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 22. November 2008 2008-11-22 19:54:51