Der Philosoph der Wandervogel-Bewegung und der Analyse der Homoerotik Hans
Blüher (1888-1955) schrieb in seinem Traktat über die Heilkunde (1926), daß
alle Krankheiten falsch gemischte Schöpfungserde seien und geheilt werden
könnten, indem der Arzt durch Hinzugabe des Fehlenden das Gleichgewicht wieder
herstellt. Ist jemand krank, so zeigt sich das für Blüher immer zugleich im
Psychischen wie im Physischen, aber es "zeigt" sich nur dort; krank
ist immer "Man" selbst. Heilungen sind ihm niemals Anpassung an die
bürgerliche Norm. Bedenkt man ferner, daß alle großen Geister, von denen wir
wissen, im ständigen Kampf mit der Neurose gelebt haben und diese siegreich
bestanden, so wird der Gedanke der Griechen, der in dem armseligen
gottverlassenen Neurotiker den nur kurzzeitig verunglückten Bruder des Genius
erkannte, von neuem bestätigt. Der Akt der Heilung ist immer ein durchaus
individueller. Jeder hat seine eigene Krankheit wie sein eigenes Gesicht. Eine
Krankheit kann damit immer auch eine Auszeichnung sein.
Blüher resümierte einst: "Wenn der Arzt einen Kranken heilt, so schafft
er damit nicht ein Stück Krankheit aus der Welt, so wenig, wie Materie durch
Verbrennung vernichtet wird, sondern er nimmt diesem Menschen den individuellen
Krankheitsanteil und - lädt ihn einem anderen auf, ohne es zu wissen. (...) Die
Krankheit des Menschen ist die Erbsünde, gesetzt unter das principium
individuationis. Wer es durchschaut, besinnt sich, ob er zu einem Arzt geht,
oder lieber sein Leid auf sich nimmt. Aber wer es durchschaut, ist auch schon
geheilt. Der Mensch ist mehr als er denkt."
Herausgegeben von Wilhelm Rimpau und mit einer Einführung von Klaus Dörner und
W. Rimpau versehen, widmet sich das vorliegende Buch ähnlich wie bei Blüher
der vom Grundtenor starrsinniger Schulmedizin abweichenden Frage: Warum wird man
denn krank? Daß der Mensch seine Krankheiten nicht einfach bekommt, sondern
daß sie immer wieder in seine Lebensgeschichte eingewoben sind, daß also jede
Krankheit auch seelische Dimensionen hat, diese Überlegungen ziehen sich,
begonnen bei Hans Blüher, weiter entfaltet auch durch das Werk Viktor von
Weizsäckers. Nicht von ungefähr nannte er seinen ärztlichen Werdegang eine
"Flucht vor der Schulmedizin". In Zeiten, in denen die Schulmedizin in
Deutschland in Schwierigkeiten steckt und die Erlöse der Ärzte sowie Gewinne
der Industrie bei jeglicher Behandlung von Patienten am Horizont schimmern, ist
das vorliegende Buch mit Texten Viktor von Weizsäckers (1886-1957), welcher der
Gründervater der Psychosomatischen Medizin in Deutschland ist, sehr als Gewinn
zu begrüßen. Die gelungene Auswahl der Texte und autobiografische Anmerkungen,
flankiert von medizinischen Fallgeschichten und theoretischen Überlegungen zur
medizinischen Anthropologie, zeigen, daß der Glaube der Moderne, eine
leidensfreie Gesellschaft zu kreieren, ein Irrtum ist. Vielmehr geht damit das
Subjekt des Kranken verloren, der zum Objekt wird, dem zumeist ein Verhältnis
von Körper und Seele abgesprochen wird.
Die Lektüre der Texte führt die Aktualität der Psychosomatik vor Augen,
ebenso wie die Forderung, nicht Krankheiten, sondern Kranke zu behandeln. Neben
den Vorstellungen des Autors über ein tieferes Verständnis des Menschseins aus
dem Kranksein heraus ist Weizsäckers Leistung mit diesem Buch gewürdigt
worden, die mit Descartes beginnende und erstmals 1644 formulierte Trennung von
Körper und Seele zu überwinden. Erhellend sind also die
medizinisch-philosophischen Überlegungen über den Sinn von Krankheit, die
Reflexionen über den Begriff des Verstehens und die Idee des
"therapeutischen Gestaltkreises". Es sind dies Überlegungen, welche
in der Philosophie, hauptsächlich bei Hans Blüher, zu Beginn des 20.
Jahrhunderts aufkamen und bei von Weizsäcker endlich breite Aufmerksamkeit
fanden. Weizsäckers Analysen, die das Gesundheitswesen revolutionieren können,
sind getragen von der tiefen Affinität dazu, ein Verlierer sein zu wollen,
hatte er doch zu der nietzscheanischen Behauptung des amor fati - der
Anerkennung des Schicksals - gemeint, sie könne vom bloßen Gewinner im
Lebensspiel niemals gemacht werden, da dieser auch seine individuelle Krankheit
nicht wahrnehmen und reflektieren kann. Nein! Es ist dies das Gegenteil des
Bildes Nietzsches, denn im Denken Weizsäckers war klar, daß mein Unglück,
mein schmerz, die Schwäche, Entbehrung, Schmach, Tod und Verlust zu mir
gehören. Sie sind Lehre und Auszeichnung. Sie können zugleich mit Stolz als
Eigentum sowie mit Verachtung als Probe eigener Kraft erlebt werden. Der Fromme
erfährt das als Gottes Wille, der Unfromme als große Leidenschaft.
Dieses in der neuen Reihe "medizinHuman" des Suhrkamp Verlags
erschienene "Lesebuch" mit Schriften Viktor von Weizsäckers stellt
sich also immer wieder die Frage: Ist Krankheit immer nur sinnloser Defekt der
Körpermaschine, oder hat es Sinn, ihrer Bedeutung nachzugehen im
Lebenszusammenhang des Individuums, ganz egal, ob es sich um eine Depression
handelt, einen Rückenschmerz oder Diabetes? Diese kluge Zusammenstellung,
einschließlich der prägnanten Einleitungen zu den einzelnen Texten, zeichnet
sich vor allem durch die Setzung philosophischer Schwerpunkte bei der
Betrachtung von Krankheiten aus. So etwa beim schon mit Blüher erwähnten Bezug
zu Sören Kierkegaards Schrift "Krankheit zum Tode", wonach die
tödliche Krankheit immer nur ein Spiegelbild der Unentrinnbarkeit der Schuld,
der Erbsünde sei.
Fazit
Die Frage des "Warum" im Buch bringt also Entdeckungen der Philosophie
und lehrreich fortanalysierte Gedanken von Weizsäckers auf den Punkt und
schlägt damit eine Schneise der innovativen Reflexion in ein von der
Borniertheit des Materialismus geprägtes, eigentlich nicht mehr als solches zu
bezeichnendes "Gesundheitswesen".
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 14. November 2008 2008-11-14 09:28:13