Die vorliegende Ausgabe de Fragmente der Vorsokratiker ist mehr seit 75 Jahre im
Gebrauch. Die Vorsokratiker waren kühne Wegbereiter aller Wissenschaft und
Philosophie, gewaltige Persönlichkeiten auf dem Wege zu großer Erkenntnis.
Thales behauptete, daß alles aus dem Wasser entstanden sei. Andere fassten ihre
philosophischen Gedanken in Visionen und Bilder zusammen, die oft dogmatisch und
nicht dialektisch reflektierend, aber dennoch - wie Friedrich Nietzsche betonte
- Höhepunkt und Anfang des griechischen Denkens und damit auch des
Philosophischen Denkens in Europa überhaupt waren. Erst später kamen Platon
und Aristoteles hinzu, die die alten Schriften der Vorsokratiker noch besessen
haben müßten, obwohl der Buchhandel erst im Entstehen war. Heute sind die
Schriften größtenteils verschollen. Die großartige Leistung des vorliegenden
Buches besteht in der Zusammenfassung aller vorhandenen Fragmente und
Aussprüche dieser alten Philosophen. Sie wurden geordnet und ins Deutsche
übersetzt. Die Philosophie und Wissenschaft der Vorsokratiker löste sich vom
Mythos, bzw. ging aus Mythen hervor, ist häufig noch eine Mischung aus
wissenschaftlich/philosophischer Welterklärung und Mythenbildung. Das sieht man
z. B. an den Weltmodellen des Anaximandros und des Empedokeles.
Die vorsokratische Philosophie entstand nicht im griechischen Mutterland,
sondern in den griechischen Kolonien, besonders in Ionien. Deshalb wird die
vorsokratische Philosophie auch "Ionische Philosophie" genannt. Der
spannendste Vertreter ist zweifellos Heraklit, dessen Lehre im Buch optimal
enthalten ist. Schneidende Aphorismen, voll Bitterkeit, den Zeitgeist
verurteilend und getragen von der Überzeugung, daß die Welt vom Kampf
entgegengesetzter Prinzipien bestimmt werde, beschwört er den Kampf als
Weltprinzip. (29 fr. 53, S. 101)
In dem Jonier Heraklit erreicht die griechische Philosophie des 6. Und 5.
Jahrhunderts ihren Gipfel. An Stelle der kühlen Strenge des Unterscheidens und
Zerlegens, wie sie Aristoteles besitzt, findet man hier, um ein Wort Goethes zu
gebrauchen, die "exakte sinnliche Phantasie", eine Richtung auf
Gestalten und Gedanken, nicht deren abstrakte Folgerungen, Begriffe und Gesetze.
Heraklit ist nicht nur der tiefste, sondern auch der vielseitigste Geist unter
ihnen. Der Gedanke in dem Heraklit eine neu Auffassung des kosmischen Daseins
gab, ist ein energetischer: der eines reinen, stofflosen, gesetzmäßigen
Geschehens. Er ist mit ihr unter den Griechen völlig einsam geblieben; es gibt
keine zweite Konzeption dieser Art. Alle anderen Systeme enthalten den Begriff
der substanziellen Grundlage.
Eine Darstellung der gesamten Lehre Heraklits ist durch den Verlust seiner
Schriften unmöglich geworden, doch das vorliegende Buch bietet eine
ernstzunehmende Hilfe beim Nachvollzug seines Denkens. Wir sehen einen Menschen,
dessen ganzes Fühlen und Denken unter der Herrschaft einer ungezügelten
aristokratischen Neigung stand, die durch Geburt und Erziehung stark angelegt
und durch Widerstand und Enttäuschung gereizt und gesteigert war.
Er hat durch seine Sitte für alle Zeit den Typus des vollkommenen Hellenen
festgestellt, eine unvergleichlich edle und hohe Kultur des einzelnen Menschen;
er vertrat nicht nur Rechte und Interessen, sondern eine Weltanschauung und
Sitte. Dieser stolze unbeugsame Mann unter den Vorsokratikern liebte den
Unterschied von Herrschenden und Gehorchenden, er hatte Ehrfurcht vor den
althergebrachten Sitten und Institutionen, die der Demokratie nicht mehr heilig
waren. Durch Abkunft und tiefe Anhänglichkeit an ein Lebensideal geknüpft,
wurde er zu einer Zeit geboren, wo dies Ideal keine Daseinsmöglichkeit mehr
hatte.
Er betrachtet die Natur nicht an sich selbst als Objekt, nach Erscheinung,
Ursprung und Zweck, sein Verfahren ist vielmehr eine Analyse der Naturvorgänge,
soweit sie Vorgänge, Veränderungen sind, ihren gesetzlichen Verhältnissen
nach. Heraklit kann als der erste Sozialphilosoph, der erste
Erkenntnistheoretiker, der erste Psychologe gelten. Er ist der bedeutendste
Künstler unter den Vorsokratikern und hat nicht im bescheidensten Sinne
didaktisch, geschweige denn populär zu wirken versucht. Das beweist sein nicht
auf leichtes Verständnis Rücksicht nehmender Stil und entspricht seiner
misanthropen Weltanschauung vollkommen.
Das antike Griechenland war die Wiege der abendländischen Kultur und die
griechischen Philosophen sind die Stammväter der abendländischen Philosophie.
Kaufleute und Seefahrer lernten verschiedene Religionen und Kulturen kennen.
Dies wurde zum Nährboden für Zweifel und eigenes Denken. Unmittelbar und
spannend führt uns diese Sammlung von Texten also der großen griechischen
Denker den Ursprung der abendländischen Geistesgeschichte vor Augen, als
Begriffe wie Natur, Geist, Kosmos, Wissenschaft oder Atom zum ersten Mal
überhaupt gedacht wurden. Dabei ziehen vier Jahrhunderte der griechischen
Philosophie am Leser vorüber: von Thales und Pythagoras, Xenophanes und
Empedokles über eben vor allem Heraklit.
Fazit
Neben den Originalfragmenten der Vorsokratiker in der inzwischen klassischen
Übersetzung von Wilhelm Capelle enthält die Ausgabe antike Berichte über sie
(die Doxographen). Die Anordnung der Texte nach Gedankenkomplexen, begleitet von
ausführlichen Erläuterungen, läßt die Konturen der verschiedenen Denksysteme
in ihrem Gesamtzusammenhang aufscheinen.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 02. November 2008 2008-11-02 11:17:22