Kaushik hat nie erfahren, dass Hema damals für ihn schwärmte. Sie war sechs
Jahre alt, als die Familie Choudhoury aus den USA nach Indien zurückkehrte. Wer
in die indische Heimat zurückging, kam nicht wieder in die USA zurück, das
hätten die Choudhouris damals wissen müssen, fanden Hemas Eltern. Hema
erinnert sich noch an jedes Detail der Abschiedsparty für die geachteten
Freunde ihrer Eltern und berichtet an Kaushik gerichtet in der Du-Form. Es war
keine Frage, dass Hemas Eltern ihre alten Freunde bei sich aufnahmen, nachdem
die Choudhourys ihrer bengalischen Heimat nach ein paar Jahren zum zweiten Mal
den Rücken kehrten. Hema ist nun dreizehn Jahre alt und verbirgt, dass sie für
den drei Jahre älteren Kaushik Choudhoury schwärmt. In der erzwungenen
Intimität auf engem Raum brechen die Gegensätze zwischen Hemas bescheiden
lebender Familie und den sich übertrieben amerikanisch gebärdenden Choudhourys
auf. Schließlich verrät Kaushik, dass seine Mutter Parul schwer krank ist und
vor der überwältigenden Fürsorge des bengalischen Familienclans zurück in
die USA flüchtete.
Als Kaushik schon studiert, wird Jahre später der Tod seiner Mutter und die
Zeit mit Hemas Familie für ihn wieder lebendig, als sein Vater ankündigt, dass
er wieder heiraten will. Kaushik führt längst sein eigenes Leben, hat nur
noch losen Kontakt zu seinem Vater. Die Zeit mit Hemas Familie empfindet der
junge Mann aus indischer Familie in der Erinnerung als sein letztes Zuhause. Als
damals die Erinnerungsstücke an Parul auf dem Boden verschwanden, verstummten
auch die Gespräche zwischen Vater und Sohn. Vater Choudhourys Heirat mit der
jung verwitweten, traditionell erzogenen Chitra aus Indien zwingt die beiden
Männer, sich ihren Erinnerungen an Kaushiks Mutter zu stellen.
Inzwischen ist Hema eine beruflich erfolgreiche Frau Mitte Dreißig, ihre Eltern
leben längst wieder in Indien. Hema hat gerade - bestärkt durch die
ernüchternde Bilanz einer langjährigen Beziehung zu einem verheirateten Mann -
in eine Vernunftehe mit einem Inder eingewilligt und ist auf dem Weg nach
Indien. Bei einem halb beruflichen Aufenthalt in Rom kreuzen sich Hemas Wege
überraschend mit denen Kaushiks. Der unruhige Weltenbummler, der als Fotograf
von einem Krisenherd zum anderen gereist war, hat zum ersten Mal in seinem
Berufsleben eine feste Stelle angenommen und wird aus Europa nach Hongkong
übersiedeln. Hema und Kaushik sind hingerissen voneinander. Kann eine Liebe
zwischen Freunden aus Kindertagen eine Zukunft haben?
In Kurzgeschichten
Melancholie der Ankunft und einem Familienroman
Der Namensvetter gab Jhumpa Lahiri
bereits Einblick in die indische Community in den USA. Durch Auskopplung aus dem
Band "Unaccustomed Earth" wird die melancholische Liebesgeschichte
Hemas und Kaushiks zu Recht in den Mittelpunkt der Leser-Aufmerksamkeit
gerückt. Lahiri nimmt in der aus drei Einzelgeschichten zusammen gesetzten
Erzählung ihr Motiv der geschlossenen Parallelgesellschaft indischer
Einwanderer wieder auf. In der verhaltenen Konfrontation zwischen der bescheiden
lebenden Familie Hemas und den kapriziösen Choudhurys zeigt die Autorin die
Brüche innerhalb dieser nach innen überwältigend gastfreundlichen
Gemeinschaft auf. Hema hat sich mit ihrem Studium zwar ihre persönlichen
Träume erfüllt; den Wünschen ihrer Eltern für ihre Zukunft wird sie jedoch
erst mit einer traditionellen Eheschließung nachkommen können.
Hemas und Kaushiks Erinnerungen sind von einer tiefen Melancholie durchzogen. An
einem Wendepunkt in ihrem Leben treffen sich zwei Menschen, die als Kinder
einmal vertraut miteinander waren. Beide spüren, dass sie nicht jünger
werden, dass es an der Zeit ist, Jugendträume und Illusionen zu begraben, sich
auf das Machbare zu beschränken. Die Chance, die für beide in dieser
unerwarteten Begegnung liegt, gibt es nur einmal im Leben.
Fazit
In schlichter, poetischer Sprache, die erst beim zweiten Lesen ihre Geheimnisse
Preis gibt, konfrontiert Jhumpa Lahiri ihre Leser in Form einer melancholischen
Liebes-Geschichte mit den Lebensentwürfen der Kinder indischer Einwanderer in
den USA.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 07. Oktober 2008 2008-10-07 09:48:55