Huberta von Voss reiste mit Bahn und Bus von Berlin nach Halle, von Köln nach
Kiel. Sie traf auf ihrer Reise Kinder, die auf ihrem Schoß sitzen wollten, ihr
dringend etwas zu erzählen hatten und ihre Hand nicht wieder loslassen wollten.
Die Autorin, Mutter von vier Kindern, deutet dieses Verhalten zutreffend als
Anzeichen von Vernachlässigung. Spektakuläre, aus den Medien bekannte
Vernachlässigungs-Fälle wie Kevin und Jessica hält von Voss für die Spitze
eines Eisbergs; denn geschätzt werden in Deutschland 3000 vernachlässigte
Kinder jährlich. Es sind Kinder, die zu Hause niemals gefragt werden, wie ihr
Tag war oder wie es ihnen geht. Begegnungen mit Menschen in ganz Deutschland
zeigen eine kaum erträgliche Trostlosigkeit. Allein erziehende Eltern, meist
ohne Ausbildung, häufig selbst im Heim oder unter schwierigen Bedingungen
aufgewachsen, können ihren Kindern keine Geborgenheit vermitteln. Sehr junge
Frauen träumen von einer eigenen Bilderbuch-Familie und sind meist schon mit
ihrem ersten Kind überfordert, weil sie die Elternrolle und Einfühlung in ein
Kind in ihrer Herkunftsfamilie nicht lernen konnten. Die Autorin spricht mit
Eltern, für die Gesundheit und Bildung ihrer Kinder keinen Stellenwert haben,
weil sie oft bereits in der dritten Generation in einem Kreislauf aus
Arbeitslosigkeit, Schulden, Gewalt oder Alkoholismus gefangen sind. Mitarbeiter
in Jugendämtern, Heimerzieher und Kinderärzte berichten, wie sich
Vernachlässigung und Gewalt von Generation zu Generation fortsetzen.
Sozialarbeiter haben längst aufgegeben, auf freiwillige Mitarbeit der Eltern
zu setzen und wissen, warum Zwangsmaßnahmen wirkungslos bleiben.
Überdeutlich zeigt sich, dass Kinderarmut nicht an der Höhe von
Hartz-IV-Zahlungen festzumachen ist; denn die so genannten Working Poor
(Geringverdiener) können sich sogar schlechter stehen als Hartz-IV-Empfänger.
In bewegenden Einzelschicksalen zeigt die Autorin, welcher Unterschied zwischen
der Armut, von der unsere Eltern und Großeltern zu erzählen wissen, und der
Armut heute besteht. Damals waren Menschen arm und voller Hoffnung, dass es
ihnen bald besser gehen wird. Heute sind Menschen arm, hoffnungslos und ohne
Träume für ihre Zukunft. Kinder sind nicht deshalb arm, weil ihre Familie ein
geringes Einkommen bezieht, sondern weil sie keine Kindheit erleben können.
Ihre Eltern haben nicht gelernt, dass sie ihren Kindern mit dem Setzen von
Grenzen Wertschätzung zeigen. Viele Kinder leben inzwischen in einer virtuellen
Welt zwischen Fernseher und Spielkonsole, während den Erwachsenen gleichgültig
bleibt, was ihre Kinder tun und erleben, ob sie sich glücklich und gesund
entwickeln können. Auf ihrer Reise durch Deutschland traf Huberta von Voss
jugendliche Strafgefangene und Kinder in Erziehungsheimen. Sie hörte von
verhaltensauffälligen Schülern, bei denen Lehrer und Mitschüler froh sind,
wenn sie nicht zum Unterricht erscheinen, weil ihr Zappeln und Pöbeln nicht zu
ertragen ist. Im Falle jugendlicher Straftäter beklagt von Voss die Unkenntnis
von Politikern, die stets nach Strafe und Abschiebung rufen, wenn es der eigenen
Karriere nützt, und offensichtlich nicht informiert sind über Projekte, in
denen jugendliche Serientäter betreut werden.
Das ermutigende Vorbild des Pfarrers im Arbeitsanzug ragt wie ein Leuchtturm aus
dieser deprimierenden Bestandsaufnahme heraus. Für Pfarrer Franz Meurer aus
Köln bedeutet Kirche ein Angebot aus Lebensmittelausgabe, Kleiderkammer,
Duschmöglichkeiten für Obdachlose, sowie Rat und Tat in Notlagen. Durch sein
Vorbild gelang es, die Gemeindemitglieder aus jahrelanger Lethargie zu reißen;
denn mit anpacken kann jeder. An der Herbart-Schule in Essen haben engagierte
Pädagogen bewiesen, dass Kinder "mit Kultur besser gedeihen ", wenn
sich Pädagogen, Eltern und Sponsoren schon vor der Einschulung um die
Förderung aller Kinder kümmern. In Kiel helfen private Sponsoren
unbürokratisch und vertrauensvoll; denn sie haben erkannt, dass sie ihre Azubis
von morgen schon heute fördern müssen. Hoch anzurechnen ist Huberta von Voss,
dass sie Aufmerksamkeit für das Schicksal behinderter Kinder weckt, die durch
Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft geschädigt wurden. Diese
weitgehend unbekannte Behinderung müsse in der Forschung, in der
Medizinerausbildung und bei der Vorsorgeuntersuchung Schwangerer stärker
beachtet werden, fordert die vierfache Mutter.
Huberta von Voss verschafft ihren Gesprächspartnern Gehör, sie schildert die
Situation von Kindern, Familien und Betreuern pragmatisch und ohne
Schuldzuweisungen. Nüchtern öffnet die Autorin jenen Lesern die Augen, die
Vernachlässigung von Kindern außerhalb ihres persönlichen Umfeldes bisher
nicht wahrgenommen haben. Familien- und Bildungspolitiker werden mit unbequemen
Fakten konfrontiert und sollten sich nach der Lektüre fragen lassen, ob
Transferleistungen im Geldbeutel der Eltern tatsächlich besser angelegt sind
als Mittel in Beratung und Förderung. Portraits einiger außergewöhnlich
engagierter Einzelkämpfer führen die desillusionierende Bestandausaufnahme zu
einem erstaunlich versöhnlichen Schluss.
Fazit
Mit "Arme Kinder, reiches Land" legt Huberta von Voss eine
sorgfältig, mit Herz und Verstand recherchierte Reportage vor.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 04. Oktober 2008 2008-10-04 11:01:07