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Erik Fosnes Hansen: Das Löwenmädchen

Das Löwenmädchen

von Erik Fosnes Hansen
Verlag: Kiepenheuer & Witsch [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-462-03973-3

Preis: 19,99 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. Dezember 2024]
Ruth Arctander stirbt bei der Geburt ihres ersten Kindes. Ruths Mann, der Stationsvorsteher eines kleinen norwegischen Bahnhofes, und die Hebamme sind entsetzt: das zu früh geborene Mädchen ist am ganzen Körper von hellen Haaren bedeckt. Die kleine Eva sieht aus, als trüge sie ein Fell. Sie leidet an Hirsutismus, einem seltenen Gendefekt, von dem im Jahre 1912 noch niemand gehört hatte. Mit der tatkräftigen Hilfe der kinderlosen Apothekergattin Frau Birgerson wird Eva von einer bezahlten Amme aufgezogen. Die Hoffnung, dass die ungewöhnliche Beahaarung wieder verschwinden könnte, erfüllt sich nicht. Der wortkarge, schon ältere Stationsvorsteher hat genaue Vorstellungen davon, wie Eva aufwachsen soll: Sie darf aus einem Fenster des Stationsgebäudes auf den Bahnsteig sehen, doch von anderen Menschen ansgesehen werden soll sie nicht. Eva denkt sich ihre eigenen Länder und Reiche aus, sie stellt sich einen anderen Bahnhof vor, indem auch ein Kind lebt und sie zeichnet gern. Arctanders Welt besteht aus der Bahnhofsuhr, Routineabläufen und der Macht der Uniformen. Er tut sich sehr schwer damit, seiner behinderten Tochter Zuneigung und Fürsorge zu zeigen. Nur unter Erwachsenen und in völliger Abgeschiedenheit aufzuwachsen reicht für die normale Entwicklung eines Kindes nicht aus. Dass Arctander sich darüber klar ist, wie wenig geeignet die Abgeschiedenheit des Lebens im Stationsgebäude für ein Kind ist, zeigt er weniger in Worten als in Taten. Er kauft Eva ein Fahrrad und er meldet sie in der Dorfschule an. Für einen Mann seiner Zeit zeigt er damit außergewöhnlichen Mut.

Einer der Höhepunkte in Evas einsamer Kindheit ist "der Funken", der Telegraphist der Bahnstation, der ihr die Nachrichtenübermittlung mit Morsezeichen beibringt. Der Funken mit den feuerroten Haaren, (eigentlich heißt der junge Mann Melvig) tut intuitiv das Richtige, weil er in Eva trotz ihres Andersseins ein ganz normales Kind sehen kann. Eine weitere prägende Begegnung hat Eva mit ihrem Klassenkameraden Arvid. Arvid ist neben Melvig wohl die einzige Person, die in Eva ein normales Mädchen zu Beginn der Pubertät sieht und ihr spontan Zugang zu einer "normalen" Kindheit vermittelt. Eva erlebt von klein auf bei anderen Unsicherheit und Ablehnung ihr gegenüber; sie beschreibt beinahe emotionslos die Menschen als Grapscher und Zupfer. Das einsame Kind beobachtet, es beklagt sich nicht, spricht nicht über seine Enttäuschungen.

Die Auseinandersetzung mit ihrem Außenseiterdasein deutet Eva in ihrer Beschäftigung mit der Figur des Samson und mit der Lebensgeschichte haariger Personen der Weltgeschichte an. Entscheidungen, die ihr Vater für ihr Leben trifft, nimmt Eva klaglos hin. Arctander erlaubt dem Hausarzt Dr. Levin, Eva einem Medizinerkongress als Forschungsobjekt vorzustellen. Auf der Reise zum Kongress nach Dänemark sieht Eva ihren Vater mit ganz neuen Augen, sie wird aber auch endgültig mit ihrem Anderssein konfrontiert, erlebt sich selbst als Anhängsel ihres missgestalteten Körpers. Eingeschoben in die Handlung sind tief beunruhigende Szenen aus Varietés und Raritätenkabinetten, die Hansens Leser befürchten lassen, Eva könne außerhalb ihres beschaulichen Dorfes als begafftes Objekt enden. Doch Eva wächst zu einer kritischen jungen Frau heran, die sich trotz ihrer einsamen Kindheit eine erstaunliche Menschenkenntnis erworben hat.
Fazit
Erik Fosnes Hansen hat mit dem "Löwenmädchen" ein hinreißendes Buch mit unvergesslichen Charakteren geschaffen. Wie umfassend er sich in ein Mädchen vom Säuglingsalter bis zur Erwachsenen hinzuversetzen mag, raubt dem Leser immer wieder den Atem. Aus wechselnder Perspektive und in feinem, leicht distanziertem Stil vermittelt Hansen ein Schicksal, das niemanden unberührt lassen wird.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 03. Oktober 2008

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