Ruth Arctander stirbt bei der Geburt ihres ersten Kindes. Ruths Mann, der
Stationsvorsteher eines kleinen norwegischen Bahnhofes, und die Hebamme sind
entsetzt: das zu früh geborene Mädchen ist am ganzen Körper von hellen Haaren
bedeckt. Die kleine Eva sieht aus, als trüge sie ein Fell. Sie leidet an
Hirsutismus, einem seltenen Gendefekt, von dem im Jahre 1912 noch niemand
gehört hatte. Mit der tatkräftigen Hilfe der kinderlosen Apothekergattin Frau
Birgerson wird Eva von einer bezahlten Amme aufgezogen. Die Hoffnung, dass die
ungewöhnliche Beahaarung wieder verschwinden könnte, erfüllt sich nicht. Der
wortkarge, schon ältere Stationsvorsteher hat genaue Vorstellungen davon, wie
Eva aufwachsen soll: Sie darf aus einem Fenster des Stationsgebäudes auf den
Bahnsteig sehen, doch von anderen Menschen ansgesehen werden soll sie nicht. Eva
denkt sich ihre eigenen Länder und Reiche aus, sie stellt sich einen anderen
Bahnhof vor, indem auch ein Kind lebt und sie zeichnet gern. Arctanders Welt
besteht aus der Bahnhofsuhr, Routineabläufen und der Macht der Uniformen. Er
tut sich sehr schwer damit, seiner behinderten Tochter Zuneigung und Fürsorge
zu zeigen. Nur unter Erwachsenen und in völliger Abgeschiedenheit aufzuwachsen
reicht für die normale Entwicklung eines Kindes nicht aus. Dass Arctander sich
darüber klar ist, wie wenig geeignet die Abgeschiedenheit des Lebens im
Stationsgebäude für ein Kind ist, zeigt er weniger in Worten als in Taten. Er
kauft Eva ein Fahrrad und er meldet sie in der Dorfschule an. Für einen Mann
seiner Zeit zeigt er damit außergewöhnlichen Mut.
Einer der Höhepunkte in Evas einsamer Kindheit ist "der Funken", der
Telegraphist der Bahnstation, der ihr die Nachrichtenübermittlung mit
Morsezeichen beibringt. Der Funken mit den feuerroten Haaren, (eigentlich heißt
der junge Mann Melvig) tut intuitiv das Richtige, weil er in Eva trotz ihres
Andersseins ein ganz normales Kind sehen kann. Eine weitere prägende Begegnung
hat Eva mit ihrem Klassenkameraden Arvid. Arvid ist neben Melvig wohl die
einzige Person, die in Eva ein normales Mädchen zu Beginn der Pubertät sieht
und ihr spontan Zugang zu einer "normalen" Kindheit vermittelt. Eva
erlebt von klein auf bei anderen Unsicherheit und Ablehnung ihr gegenüber; sie
beschreibt beinahe emotionslos die Menschen als Grapscher und Zupfer. Das
einsame Kind beobachtet, es beklagt sich nicht, spricht nicht über seine
Enttäuschungen.
Die Auseinandersetzung mit ihrem Außenseiterdasein deutet Eva in ihrer
Beschäftigung mit der Figur des Samson und mit der Lebensgeschichte haariger
Personen der Weltgeschichte an. Entscheidungen, die ihr Vater für ihr Leben
trifft, nimmt Eva klaglos hin. Arctander erlaubt dem Hausarzt Dr. Levin, Eva
einem Medizinerkongress als Forschungsobjekt vorzustellen. Auf der Reise zum
Kongress nach Dänemark sieht Eva ihren Vater mit ganz neuen Augen, sie wird
aber auch endgültig mit ihrem Anderssein konfrontiert, erlebt sich selbst als
Anhängsel ihres missgestalteten Körpers. Eingeschoben in die Handlung sind
tief beunruhigende Szenen aus Varietés und Raritätenkabinetten, die Hansens
Leser befürchten lassen, Eva könne außerhalb ihres beschaulichen Dorfes als
begafftes Objekt enden. Doch Eva wächst zu einer kritischen jungen Frau heran,
die sich trotz ihrer einsamen Kindheit eine erstaunliche Menschenkenntnis
erworben hat.
Fazit
Erik Fosnes Hansen hat mit dem "Löwenmädchen" ein hinreißendes Buch
mit unvergesslichen Charakteren geschaffen. Wie umfassend er sich in ein
Mädchen vom Säuglingsalter bis zur Erwachsenen hinzuversetzen mag, raubt dem
Leser immer wieder den Atem. Aus wechselnder Perspektive und in feinem, leicht
distanziertem Stil vermittelt Hansen ein Schicksal, das niemanden unberührt
lassen wird.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 03. Oktober 2008 2008-10-03 15:12:42