Der Historiker John G. Röhl hat nun den langerwarteten dritten Band seiner
monumentalen Biographie über Wilhelm II. vorgelegt. Sie ist als Gegenanalyse zu
dem Werk des verstorbenen Historikers Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an
allem schuld?" angelegt. Dieser Historiker hatte im Jahre 2002 die Innen-,
Gesellschafts-, Wirtschafts- und Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches in
der Epoche Wilhelms II. zusammen getragen. Er fasste hier in Kürze die
Erkenntnisse seines monumentalen und grossartigen Geschichtswerkes:
"Bürgerstolz und Weltmachtstreben", einer der besten Darstellungen
des Kaiserreiches unter Wilhelm II. zwischen 1890 und 1918, zusammen.
Grund der Studie Mommsen war eine Differenz zu John C. G. Röhl, dessen
Lebenswerk die Beschäftigung mit Wilhelm II. mit diesem jetzt erschienenen Band
abgeschlossen ist. Röhl baut in dieser Biographie auf sein brilliantes Buch:
"Kaiser, Hof und Staat": Wilhelm II. und die deutsche Politik"
(4., verb. u. erw. Aufl. 195) auf. Während Röhl - und dies wird auch im
vorliegenden dritten Abschlussband sehr deutlich - in Wilhelm II. den
Hauptverantwortlichen der deutschen Innen- und Außenpolitik zwischen 1890 und
1914 sieht und ihm eine "erhebliche Mitschuld" (so ein Interview zum
Anteil Wilhelms am Ausbruch des Ersten Weltkrieges) zuschreibt und in Anlehnung
eines Terminus von Norbert Elias vom "Königsmechanismus" spricht,
hatte Mommsen in seinem letzten Werk darauf dezidiert darauf hingewiesen, dass
der Anteil der preußisch-deutschen konservativen Machteliten am Anteil der
deutschen Politik nicht unterschätzt werden dürfe. Dies stimmt sicherlich.
Dennoch hat mich Mommsens Argumentation nicht ganz überzeugt, denn er belegt in
dieser Studie treffend den Einfluss, den Wilhelm II. auf die deutsche Politik
hatte. Sicherlich ist es richtig, dass das kaiserliche Regiment sich ab 1906 -
und insbesondere mit der sogenannten "Daily Telegraph"-Affäre, die
erstmals massive Kritik an dem sogenannten "persönlichen Regiment"
des Kaisers laut werden ließ - in der Defensive befand.
Dennoch trug der Kaiser - und darin ist eindeutig Röhl recht zu geben -
letztendlich die Verantwortung für die deutsche Politik. Dies stand im
Gegensatz zu seinem - sicherlich sehr konservativen - Großvater, der sich -
insbesondere im hohen Alter - immer mehr auf Bismarck verließ und selber als
"leutseelig-populäres Staatsoberhaupt" (so etwa Volker Ullrich) über
den Parteien stand (sein Ausspruch: "es ist schwer, unter Bismarck Kaiser
zu sein!" ist legendär geworden)mehr und mehr auf repräsentative Aufgaben
zurückzog.
Wilhelm II. wollte dagegen Selbstherrscher sein. Diesen Anspruch weist Röhl im
vorliegenden Band durch zahlreiche Zitate nach. Er zeigt, dass sein Anteil am
Weg in den Weltkrieg wichtig und entscheidend war. Differenzen zum Reichskanzler
Bethman-Hollweg in der Juli-Krise 1914 seien rein taktisch bedingt gewesen und
dürften nicht überinterpretiert werden.
Meines Erachtens haben beide Historiker recht und der
"Historikerstreit" Mommsen/Röhl erscheint mir - gerade nach Vorliegen
dieses dritten Bandes - recht akademisch zu sein. Wilhelm II. trug die
Hauptverantwortung an der deutschen Politik, sein neo-absolutistisches
Staatsverständnis ließ eine Delegation der Verantwortlichkeiten nicht zu. Er
war allerdings auch schreckhaft und scheute die Konsequenzen seiner - oft
martialischen - Reden; ein Aspekt, der auch - entgegen seiner zentralen These -
bei Röhl bei der Beschreibung der Marokko-Krise 1905 und der Juli-Krise 1914 -
offenbar wird. Bei Röhl kommt m.E. folgender Aspekt der deutschen Geschichte
eindeutig zu kurz: Wilhelm II. wurde falsch beraten. Er war daher nicht "an
allem schuld", die Berater und Eliten des Kaiserreiches tragen einen
erheblichen Anteil an den Verantwortlichkeiten der Politik des Kaiserrreiches
zwischen 1890 und 1918. Darin hat Mommsen recht. Dennoch ist der zentrale
Einfluss des Kaisers auf die nach ihm benannte - nämlich wilhelminische Politik
- wie es ja auch Mommsen durchaus zeigt - nicht zu übersehen - und hier
wiederum ist John G. Röhl zuzustimmen, der diese These auch in seinem neuen
Band offensiv verteidigt. Ein kindlicher Minderwertigkeitskomplex und seine
körperliche Behinderung sind von zahlreichen Historikern - auch Mommsen und
Röhl - für die Charaktereigenschaften Wilhelms II. angeführt worden, der
jedoch ein "Kind seiner Zeit" blieb. Er war - im Sinne des
"Königsmechanismus" durchaus der Hauptverantwortliche und Initiator
der deutschen Politik - auch nach der "Daily Telegraph-Affäre" 1908.
Richard Ned Lebow hat nachgewiesen - und Röhl folgt ihm hierin - dass in der
Außenpolitik eine eigenständige Meinung der Diplomaten nicht geduldet wurde -
sie mußten der Reichsleitung und dem Kaiser "nach dem Mund reden".
Röhl zeigt dies auch für den Hof und die Hofgesellschaft Wilhelms II. auf. Er
duldete nur Ja-Sager und keinen Widerspruch. Aufgrund der halbkonstitutionellen
Verfassung des deutschen Kaiserreiches, vom "weißen Revolutionär"
Bismarck geschaffen, gab es letztlich keine Gegengewichte gegen den Kaiser. Zwar
bleibt zweifelhaft, ob eine parlamentarische Monarchie nicht ebenfalls ein
gigantisches Flottenprogramm gegen England aufgelegt hätte - der Einfluss des
"persönlichen Regiments" des Monarchen wäre allerdings in einem
solchen Fall begrenzt worden. Und hier gilt, was der deutsche Admiral Albert
Hopman im Oktober 1918 schrieb: "Es ist gekommen, wie ich vorausgesehen,
nicht nur in den letzten Wochen, sondern lange lange vorher. Was Deutschland in
den letzten 3 Jahrzehnten gesündigt hat, muss es büßen. Es war politisch
erstarrt durch das blinde Vertrauen, die sklavische Unterordnung unter den
Willen eines in Eitelkeit und Selbstüberschätzung strotzenden Narren."
Diese zentrale Feststellung Röhls aus seinem Aufsatz: "Kaiser Wilhelm II:
Eine Charakterskizze" in seinem Buch: "Kaiser, Hof und Staat" ist
völlig korrekt. Natürlich war der Kaiser "nicht an allem schuld."
Der Versuch Mommsens ist dennoch nicht zu übersehen, die Verantwortung des
Kaisers geringer zu werten, als sie es tatsächlich gewesen ist. Und genau
dagegen schreibt Röhl - insbesondere in diesem dritten Teil seiner
lesenswerten, wenn auch mit Quellen überfrachteten, Biographie an. Insofern
neige ich in dem Streit Röhl zu. Allerdings scheinen mir beide Positionen zu
überspitzt zu sein, wie oben angedeutet. Die "Wahrheit" dürfte wohl
eher in der Mitte beider Positionen liegen.
Für alle Interessierte der wilhelminischen Epoche ist das Buch - wie auch das
Werk von Mommsen - unverzichtbar. Als kürzere Einführung zum Thema für
interessierte, denen die drei Bände schlicht zu umfangreich sind, sind Röhls:
"Kaiser, Hof und Staat", und das erwähnte Buch von Wolfgang J.
Mommsen: "War der Kaiser an allem schuld" und Volker Ullrichs - m.E.
bestes - Grundlagenwerk zum Kaiserreich: "Die nervöse Großmacht",
heranzuziehen. Wer sich darüber hinaus für das Thema interessiert, dem sei
Radkaus "Zeitalter der Nervosität" sowie das von Lothar Gall
herausgegebene: "Otto von Bismarck und Wilhelm II." empfohlen. Und
natürlich gibt es noch den "Klassiker" zum zum deutschen Kaiserreich
von Hans-Ullrich Wehler. Diese sind m.E. nach wie vor die besten Einführungen
zum Thema.
Fazit
Egal wie man zu Röhls These steht - die ersten Rezensionen in der Presse
zeigen, dass sie von Historikern und Journalisten überwiegend abgelehnt und
Mommsens These zugeneigt wird - so gilt dennoch zu konstatieren: ich bewundere
die Forschungs- und Lebensleistung von John G. Röhl, der viele Quellen zu
Wilhelm II. selber in mühsamer Forschungsarbeit aufgespürt und
zusammengetragen hat, was zum Teil - besonders im Teil vor 1914 - auf Kosten der
Lesbarkeit des Bandes geht. Insgesamt dürfte diese Biographie dennoch zum
Standardwerk werden. Daher vergebe ich die volle Punktzahl
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 02. Oktober 2008 2008-10-02 19:56:23