Neil Gaiman überrollt den Leser. Anders kann man das nicht nennen, was er auf
den ersten Seiten treibt. Es beginnt mit einem Besuch in einer Karaokebar, wo
der Kellner noch der Meinung ist, es wird ein schrecklicher Abend. Erst als Fat
Charlies Vater die Bar betritt atmet er, fatalerweise, auf. Dann befinden wir
uns plötzlich auf einer Station im Krankenhaus, wo Fat Charlies Mutter gegen
Krebs behandelt wird. Ihr Ex-Mann und Charlies Vater besucht sie mit einer
Jazzkapelle und am nächsten Morgen stellt sich der Krebs als falscher Alarm
heraus. All das wirkt sehr Zusammenhanglos. Aneinander gereiht wie bunte
Plastikkugeln an einem Faden, der anschliessend als Kette verkauft wird. Aber,
und das ist ungewöhnlich für mich, ich wollte das Buch nicht aus der Hand
legen. Eine Handlung habe ich nicht gefunden und der Erzähler kam vom
hundersten ins tausendste, griff einen neuen Erzählfaden (Handlungsstrang kann
in keinem Fall dazu gesagt werden. Nie und nimmer.) auf, und schleppte den Leser
auf Gedeih und Verderb mit, ohne dass er sich direkt wehren konnte. Wir werden
von einer alltäglichen Begebenheit in die nächste geschoben, so als ob man von
einem Zimmer ins nächste geht und feststellen muss, dass es total anders
eingerichtet ist als das vorherige. Neil Gaiman fasziniert in diesem Fall nicht
mit Phantastik, sondern mit seiner Erzählweise. Und der Übersetzer Karsten
Singelmann zeigte eine hervorragende Leistung indem er das amerikanische
Gebrabbel in lesenswertes Deutsch übersetzte.
Die eigentliche Geschichte beginnt erst am Ende des ersten Kapitels, als Papa
Anansi zu den Klängen von "I am what I am" von der Bühne stürzt und
einer Blondine das Oberteil herunter reisst. Da sah mehr als nur das Mädel
blöd aus der Wäsche. Fat Charlie ist sehr überrascht, als er erfährt, dass
er noch einen Bruder hat. Aber dieser ist wesentlich besser drauf, denn der ist
mit jeder Menge magischer Gaben gesegnet, während Fat Charlie eher ein Mann
ist, der nicht aufzufallen wünscht. In keiner Art und Weise. Das ändert sich
in dem Augenblick, als sein Bruder ihm die Verlobte ausspannt.
Fazit
Haben sie die Handlung gefunden? Wo? Bitte klären sie mich auf.
Kommen wir noch einmal zum Buch selbst zurück. Ich hatte schon angedeutet, dass
mich das Buch in seinen Bann geschlagen hat. Die Aussage kann durchaus wörtlich
genommen werden. Ich hatte keine Chance, na ja fast keine, das Buch aus der Hand
zu legen. Neil Gaiman kann erzählen und die Übersetzung ist durchaus
lesenswert. Seine Personen sind gelungen beschrieben, seine Alltagssituationen
klar heraus gearbeitet und leben. Dabei lässt der Autor kein einziges Klischee
aus, um diesen Roman vor den Augen des Lesers zum Leben zu erwecken. Da gibt es
eine übereifrige Polizistin, zu der sich Fat Charlie hingezogen fühlt,
Jungfern, Witwen und Touristinnen. Mit den Frauen als Nebenfiguren hat er es ja.
Die fallen immer irgendwie auf. Langsam, während des Lesens verändern sich
seine Personen. Plötzlich fallen sie durch das bereits vorgegebene Raster,
entwickeln ein Eigenleben, das ihnen der Autor scheinbar vorenthalten wollte.
Mit diesem erwachenden Leben wird der Roman dann doch noch interessant.
Allerdings würde ich Neil mit diesem Roman nicht so hoch loben, wie es ein
gewisser Stephen King auf der Rückseite des Buches oder verschiedene
Zeitschriften in Amerika tun.
Vorgeschlagen von erik schreiber
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veröffentlicht am 16. Juni 2008 2008-06-16 06:34:26