Die andere Hälfte der Stadt liegt hinter einer Mauer. Jojo lebt im Jahr 2371.
Er kann aus seinem Zimmerfenster über die Mauer sehen, doch über die Welt auf
der anderen Seite gibt es nur Gerüchte. Man weiß noch nicht einmal, wie hoch
die Mauer eigentlich ist. Jojo wurde als Findelkind zur alten Agathe gebracht
und wächst bei ihr und dem Schafhirten Otto auf. Jojos Leben im Stadtviertel
rechts der Mauer ist trostlos. Nahrung und Brennholz sind knapp, die Stadt wird
von Wölfen und von einer gewalttätigen Jugendbande unsicher gemacht. Otto
hält Jojo für einen unnützen Esser, der zuviel Zeit mit Denken und Träumen
vertrödelt. Jojo grübelt immer wieder über die von einem Mann namens Alef
Bustani errichtete Mauer nach, um die sich eine kultische Verehrung samt
Heldengeschichten, Liedern und Redensarten gebildet hat. Die Zahl der
herumstreunenden, elternlosen Kinder wächst. Selbst die alte Zelda, die sonst
immer einen Weg fand, weitere Kinder zu versorgen und Nahrung zu organisieren,
fühlt sich inzwischen von der Situation überfordert.
Als Jojo ein bewusstloses Mädchen vor der Hüttentür findet, pflegt Agathe die
Unbekannte gegen Ottos ausdrücklichen Willen gesund und nennt sie Lotte. Obwohl
Lotte sich nicht erinnern kann, woher sie kommt, hat sie ein erstaunliches
Wissen über Dinge, von denen weder Jojo noch Agathe je gehört haben. Tschako,
der Nachbarjunge, ist überzeugt, das fremde Mädchen komme von
"drüben", von der anderen Seite der Mauer. Um Lottes Krankheit zu
behandeln, soll Jojo Sifrate vom Medikamentenhändler holen, ein Medikament, das
in Lottes Welt selbstverständlich zu sein scheint. Tschirwitz, der
Medikamentenhändler, ist nicht zu Hause und Jojo sucht selbst in den
Kellergewölben unter Tschirwitz Haus danach. Jojo findet nur mühsam wieder aus
dem Keller-Labyrinth hinaus und stellt fest, dass der Besuch im Keller ihm
ekelhafte Nebenwirkungen eingebracht hat. Außerdem kann er sich nicht mehr
erinnern, was in Tschirwitz Haus geschah.
Auf der Suche nach seiner verschwundenen Tochter spricht ein Mann namens Simon
Jojo an. Simon hat als Muralistiker immenses Wissen über jegliche Form von
Mauern und Linien angehäuft. Er kann erklären, warum die Stadt in eine
vernachlässigten und eine moderne Hälfte geteilt ist. Als Omar Musalla, der
Clan-Chef der murisch sprechenden Volksgruppe, den pfiffigen Jojo in seine
Familie aufnehmen will, damit der Junge bessere Bildungs-Chancen erhält, fühlt
Jojo sich unter Druck gesetzt und flieht Hals über Kopf aus seiner Stadt.
Zur gleichen Zeit erhält auf der anderen Seite der Mauer die 16-jährige
Schülerin eines Elite-Kollegs von einem Unbekannten den Schlüssel zu einem
Schließfach, in dem sich Informationen über ihre verschwundene Mutter befinden
sollen. In dieser Hälfte der Welt wird jeder Bürger penibel überwacht, an den
Schulen herrscht starker Leistungsdruck. Das Versagen eines Schülers in einer
Prüfung ist nicht nur eine persönliche Katastrophe, sondern hat stets üble
Folgen für die gesamte Klassengemeinschaft. Das Gesellschaftssystem beruht auf
Muralistik, der Vorstellung von der Trennung in zwei Hälften. Anhänger
muralistischer Theorien sind überzeugt davon, dass jede Vermischung zweier
Hälften schädlich sei - nur Trennung mache die Welt übersichtlich. Die
Muralistiker nutzen einige nette futuristische Bautechniken und Verkehrssysteme;
und sie sind im Besitz pfiffiger Artefakte. Pikanterweise kennen auch sie das
Problem der Erinnerungslücke bei Personen, die unwissentlich in einem
Kellergewölbe unter das Mauer-System geraten sind. Doch im Gegensatz zu Jojos
Welt kennen sie ein Gegenmittel gegen die üblen Nebenwirkungen des
Kellerbesuchs.
Der pfiffige Jojo scheint die einzige Person zu sein, die eine Verbindung
zwischen den beiden Systemen finden kann und so verhindern, dass das
Mauer-System sich unkontrolliert weiter ausbreitet.
Fazit
Martina Wildner beschreibt ihre durch eine Mauer getrennte Welt und deren
muralistisches Gesellschaftssystem fesselnd und dabei einleuchtend. Die
Symbolik der getrennten Systeme hat zahlreiche Bezüge zum geteilten
Deutschland, zur Chinesischen Mauer, zur Trennung in entwickelte und
unterentwickelte Staaten und zu jeglicher Mauer in den Köpfen der Menschen. Die
Gedankenwelt der Muralistiker entwickelt sich aus den Erlebnissen Jojos und den
Erinnerungen der Elite-Schülerin. Tragende fantastische Elemente sind das
pfiffige Verkehrs-System Airmoop und das Eigenleben der Mauerkonstruktion. Ohne
übersinnliche Kräfte und martialische Krieger entwickelt die fantastische
Handlung ihre Spannung aus der Frage, ob Jojo eine Verbindung zwischen der
geteilten Welt herstellen kann. Ihre jugendlichen Helden, mit 14 und 16 Jahren
im besten Alter, um erotisches Interesse aneinander zu finden, schildert Martina
Wildner sympathisch und glaubwürdig. Murus ist eine eigenständige Welt,
komplex, philosophisch, lange nachwirkend - das Buch ragt aus dem Angebot an
Fantasy für Jugendliche deutlich heraus.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 14. Juni 2008 2008-06-14 18:30:07