Die Publikaton Robert Kagans gehört sicherlich zu den wichtigsten
Streitschriften dieses Jahrzehntes. Keine Frage: die provozierenden Thesen
Kagans sind für Europäer schwer verdaulich. Er analysiert aus amerikanischer
Sicht die Ursachen der europäisch-amerikanischen Spannungen. Insbesondere
lägen sie in unterschiedlichen historischen Erfahrungen (so wurde der
Europa-Gedanke primär geboren, um die deutsche Hegemonialmacht einzudämmen,
während die USA von Beginn an die Bereitschaft zeigten, ihre Macht -
nötigenfalls auch einseitig - einzusetzen). Europa berufe sich gedanklich auf
Kant, Amerika auf Hobbes.
Die Kurzfassung dieses sehr interessanten Buches ist ein Aufsatz des Autors,
lange im amerikanischen Außenministerium tätig, in der "Policy
Review", einer den Republikanern nahestehenden amerikanischen
Zweimonatsschrift der Hoover Institution. Der Aufsatz wurde im Oktober-Heft der
"Blätter für deutsche und internationale Politik" nachgedruckt. Die
Diskussion über den Aufsatz findet sich in den Folgeheften, insbesondere in den
Aufsätzen "Gulliver vs. Lilliput: Stellungnahmen zum Stand der
transatlantischen Beziehungen.".
Und hier wird es sehr interessant: Wer die Differenzen zwischen Deutschland bzw.
dem "alten" Europa (Rumsfeld) einerseits und Europas andererseits
verstehen möchte, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Natürlich muss man die
Thesen, Europa sei zu schwach und gäbe zu wenig für die Verteidigung aus, es
seien die USA, die Europa schützen müssten, nicht teilen. Aber das Gross- und
Mittelmächte entscheidende Wahrnehmungsunterschiede besitzen, dies wird
deutlich. Kagan schreibt in seinem Buch und seinem Aufsatz: "Als die USA
schwach waren, verfolgten sie die Strategien der Schwachen: nun, da sie mächtig
sind, benehmen sie sich auch wie ein mächtiger Staat. Als die europäischen
Großmächte stark waren, glaubten sie an Stärke und Kriegsruhm. Heute sehen
sie die Welt mit den Augen schwächerer Mächte. Diese ganz unterschiedlichen
Blickwinkel - aus einer Position der Schwäche oder der Stärke - haben
naturgemäß unterschiedliche strategische Einschätzungen hervorgebracht,
unterschiedliche Beurteilungen von Bedrohungen und den richtigen Mitteln, diesen
zu begegnen." Dies ist richtig. Wie Christoph Bertram in einem 2000
erschienenen Sammelband: "Weltmacht ohne Gegner" (Baden-Baden, 2000)
geschrieben hat (also zur Zeit der Präsidentschaft Clintons), schreibt, hat
Amerika sich dank seiner Geographie lange Zeit für unverwundbar gehalten (dies
endete dramatisch am 11. September 2001), während Europäer durch zwei
Weltkriege wissen, dass Unverwundbarkeit eine Illusion ist. Bertram schreibt in
seinem interessanten Aufsatz "Partnerschaft und Divergenz: Die
amerikanische Außenpolitik und die Zukunft der transatlantischen
Beziehungen" weiter, dass Amerika ein viel stärkeres Vertrauen auf
technische Lösungen für politische Probleme entwickelt habe als Europa.
Insbesondere gäbe es zwischen Europa und den USA eine unterschiedliche
Gewichtung zwischen militärischen und nicht-militärischen Mitteln in der
Außenpolitik. "Für die Europäer stehen in der neuen Phase
internationaler Ungewißheiten soziale und wirtschaftliche Verwerfungen an
erster Stelle möglicher Ursachen. Deshalb denken ie bei internationalen Krisen
zunächst nicht an die Zerschlagung feindlicher Strukturen durch militärische
Intervention, sondern an den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen durch
wirtschaftliche Unterstützung." Dahinter stehe eine tiefsitzende,
gelegentlich gewiß die eigene Schwche rationalisierende Überzeugung, auch
unfreundliche Staaten könnten zu konstruktivem Verhalten ermuntert werden, wenn
man ihre Interessen beachte und ihre Neigung zur Zusammenarbit durch materielle
Anreize belohne. "Der Begriff Schurkenstaaten" paßt nicht in ein
Weltbild, das vom Bewußtsein der Interdependenz geprägt ist. Militärische
Eingriffe als Mittel außenpolitischer Interessenwahrung und Beeinflussung sind
nicht ausgeschlossen, werden jedoch vornehmlich als "letztes Mittel"
verstanden." Soweit Bertram. Dies ist sehr sehr aktuell, weil es die
Auseinandersetzungen im UN-Sicherheitsrat zur Irak-Frage genau wiedergibt. Genau
diese Thesen vertritt - vergröbert und plakativ - Robert Kagan. Amerika gibt
das zehnfache an Mitteln zur militärischen Verteidigung aus . Das DTV-Jahrbuch
2003 beziffert die amerikanischen Militärausgaben 2001 auf 16,2% des
amerikanischen Bruttosozialproduktes. Zum Vergleich: Der gesamte
Verteidigungsetat der USA betrug 2001 310, 5 Mrd. US$, Deutschland gab zur
selben Zeit 21 Mrd. US-Dollar oder 9,9% seines BSP dafür aus. Für 2003
beziffert Lutz Unterseher den Anstieg der amerikanischen Ausgaben auf 15% bzw -
inflationsbereinigt - 50 Mrd. US$. Für 2007 sind 448 Mrd. US$ vorgesehen
(Nominalwert), inflationsbereinigt betragen die geplanten Ausgaben 407 Mrd. US$.
Trotzdem ist dies mehr als das zehnfache der Ausgaben der Europäer. Dies sind
Diskrepanzen, die Kagan benennt. Fazit Kagans aus dieser Situation: "Nur
wenige Europäer räumen ein,...dass ein derartiges amerikanisches
Vorgehen...durchaus zum Nutzen gereichen mag...Stattdessen betrachten heute
viele Europäer die Vereinigten Staaten selbst als den Banditen, den
Oberschurken... Da die Vereinigten Staaten ihre Macht wohl kaum einschränken
werden und Europa seine eigene Macht bzw. seine Bereitschaft, die Macht, die es
besitzt, auch einzusetzen, im besten Falle geringfügig vergrößern wird,
dürfte die Zukunft verstärkt von transatlantischen Spannungen geprägt
sein." Insofern bestehe die Gefahr einer massiven Entfremdung von Europa
von den USA.
Diese Sicht mag einseitig sein, sie wird jedoch - wie der Aufsatz von Bertram
zeigt, von vielen Europäern gezeigt. Der Frankfurter Politikwissenschaftler
Gunther Hellmann etwa
schreibt dazu: "Robert Kagan zeichnet ein sorgenvolles Bild der
europäisch-amerikansichen beziehungen. bei allen Überzeichnungen liefert er
eine in vieler Hinsicht treffende Beschreibung der zunehmenden
Verwerfungen." Dies ist richtig. Um die amerikanische Sicht der Dinge,
insbesondere auf dem rechten Flügel der Republikaner, zu verstehen, ist die
Lektüre dieses Buches unerlässlich. Hellmann empfiehlt in seinem Aufatz:
"wechselseitige Rücksichtnahme" und zitiert Kagan, der der eigenen
Regierung "mehr Verständnis für die Empfindsamkeiten anderer und eine
großzügigere Geisteshaltung." Dazu gehört auch die Bereitschaft in
Europa, mehr Lasten im Bereich Verteidigung zu übernehmen - wie von Amerika,
weniger religiöses Sendungsbewußtsein und damit verbrämten Imperialismus
(vgl. John Ikenberry: America's Imperial Ambition, in: Foreign Affairs, Jg. 81,
Nr. 5, 2002, S. 44-60) zu praktizieren. Es darf amerikanische Interessen nicht
als das Non-Plus-Ultra zu betrachten, als einzig legitime Interessen der
Menschheit, sondern sollte auf seine Partner hören und zur Politik des
multipolaren Interessenausgleiches zurückkehren. Margaret Boveri hat 1946, nach
Ende des 2. Weltkrieges,in ihrer "Amerikafibel" geschrieben: "Ihr
[der Amerikaner] Geschichtsbild, ihr Geschmack, ihre Denkprozesse sind andere
als die europäischen. Verständnis zwischen den Völkern entsteht nicht
dadurch, daß der eine die Sprache des anderen lernt, seine Bücher liest, sich
auf Gefühle und Reaktionen besinnt, die allen Menschen gemeinsam sind,
Verständnis kann erst dann entstehen, wenn das vom Grund auf Andersartige am
Gegenüber erkannt und in seinen Wurzeln begriffen wird."