Die Pfade, die vom Haus in den Wald führten, waren immer nur von dem Jungen,
seinem Vater und davor von seinem Großvater begangen worden. Die Fähigkeit, in
dem jahrhundertealten Wald am Fluss Tumen Ginsengwurzeln zu finden, zu bestimmen
und sorgfältig auszugraben, wurde vom Vater an den Sohn weitergegeben. Nie wird
der Junge den Tag vergessen, als er zum ersten Mal allein eine Wurzel entdeckte,
sie umsichtig ausgrub und dabei so ehrfürchtig behandelte wie ein Lebewesen.
Nicht jeder kann eine Ginseng-Pflanze bestimmen und deshalb sehen Ginsengsucher
sich als Jäger. Der Junge erlebte den Tag seines ersten Ginsengfundes zur Zeit
von Maos Anti-Spatzen-Kampagne in der Mandschurei im Grenzgebiet zu Korea.
Dreißig Jahre später lebt der Mann noch immer als Ginsengjäger in der
abgeschiedenen Gegend. Ein Fußmarsch nach Yanji, in die nächste Stadt, dauert
8 Stunden. Ginseng wird gut bezahlt, so dass er den Weg nur selten unternehmen
muss.
Bei jedem Besuch in der Stadt verkauft der Mann eine einzelne Wurzel an den
Ginseng-Händler und besucht das Bordell von Fräulein Wong. Hier trifft er eine
Frau - sie alle werden Fräulein Wong genannt - die auf ihrer Flucht vor der
Hungersnot in Korea in die Hände eines Schleppers geriet und an das Bordell
verkauft wurde. Der Mann spricht mit ihr in ihrer Muttersprache; denn sein
Großvater war während des Zweiten Weltkriegs aus Korea nach Nordchina
verschleppt worden. "Ich werde immer auf der Flucht sein" sagt das
koreanische Fräulein Wong und deutet das Ausmaß der Hunger-Katastrophe in
ihrer Heimat nur an. Der Mann könnte das koreanische Fräulein Wong aus dem
Bordell frei kaufen, doch er verschiebt die Entscheidung, ob er seine Einsamkeit
aufgeben will.
Das Leben des Ginsengjägers hat sich verändert: Am Fluss, der Korea und China
bisher eher zufällig trennte, tauchen Soldaten auf, die Grenze wird befestigt
und sorgfältig bewacht. Der Ginsengjäger und die koreanischen Grenzsoldaten
leben nun Auge in Auge. Aus seinem Gemüsegarten stehlen halb verhungerte
Menschen Mais und versuchen, einzelne Maiskolben über den Fluss nach Korea zu
bringen. Als ein mageres kleines Mädchen versucht, Mais zu stehlen, kommt es
zur Konfrontation mit den Grenzsoldaten.
Jeff Talarigo beschreibt in monochromen Bildern einen menschenscheuen Einsiedler
und die Landschaft, in der er lebt. Die poetischen, ehrfurchtsvollen
Naturbeschreibungen kontrastieren mit den traumatischen Erlebnissen der jungen
Koreanerin, die sich dem Mann erst allmählich erschließen. Das Ausmaß der
Hungersnot und die Erlebnisse der Frau werden dem Ginsengjäger nicht
vollständig zugemutet, die Leser erfahren darüber aus den Gedanken der jungen
Koreanerin. Talarigos Personen bleiben seltsam farblos, ein merkwürdiger
Kontrast zu seinen poetischen Landschafts- und Naturbeschreibungen. Trotz der
distanzierten Darstellung der Figuren wirkt Talarigos Erzählung lange auf den
Leser nach.
Fazit
Die sorgfältige Recherche des Autors in der Mandschurei unter Angehörigen der
koreanischen Minderheit lässt sein Buch sehr authentisch wirken. Gerade in
diesem besonderen Jahr lenkt Talarigos Roman die Aufmerksamkeit seiner Leser auf
eine nationale Minderheit in China, von der bisher meist nur ihre
farbenprächtige Tracht anlässlich des Zusammentreffens des nationalen
Volkskongresses wahrgenommen wird.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 23. Mai 2008 2008-05-23 10:29:40