In seinen frühen Schriften vertritt der Philosoph Johann Gottlieb Fichtes
(1762-1814) einen bürgerlichen Freiheitsbegriff, der die Geistesverwandtschaft
der deutschen idealistischen Demokratietheorie mit der Französischen Revolution
aufzeigt. Er stärkt die Autonomie des sittlichen ‚Ich’ gegen die
konservative Reaktion, gegen eine historisch erstarrte Auffassung, die sich für
ihn nur noch mit repressiver Gesinnung aufrechterhält. Ihm geht es um die
Versöhnung des sittlich autonomen Subjektes im kantischen Sinne mit einer von
ihm entfremdeten politischen Umwelt. Politische Philosophie wurde hier zur
realpolitisch relevanten Maxime.
Der Vernunftoptimismus gestattete es Fichte, autonomes Selbstbewußtsein und
gemeinschaftliche Vollkommenheit in eins zu setzen. Theoretisch und pädagogisch
sollte die bürgerliche Freiheit als Muster auch für eine die Nationen
anerkennende bürgerliche Weltordnung gelten. Freiheit und Bürgerlichkeit
fußen bei ihm auf einem geistig-kontemplativen Bewußtsein für die
sittlich-humanistische Vervollkommnung. Aufklärung und Deutscher Idealismus
korrelieren vor dem Hintergrund eines ganzheitlich-staatsphilosophischen Rahmens
von Individuum, Gemeinschaft, Freiheit, Volk und Menschheit. Die Dialektik eines
Umschlages in Unfreiheit, Unwahrheit und abstrakte moralische Forderungen
seitens des Staates wird von Fichte durchaus erkannt. Er schreibt in praktischer
Absicht über den Staat: "Er darf sich nicht die Entscheidung über
Wahrheit und Irrtum anmaßen, (...), er darf die freie Untersuchung nie
hindern." (Johann Gottlieb Fichte 1967: Über die Achtung des Staates für
die Wahrheit [1792], in: Willms, Bernard (Hrsg.), Fichtes Revolutionsschriften,
1967, S. 9.) So existiert in der alten deutschen Staatslehre intentional eine
Idee der Freiheit, in der Freiheit vielmehr durch den Staat als durch die
Gemeinschaft eines Volkes bedroht ist.
In der Philosophiegeschichte taucht Fichte hauptsächlich mit seinen frühen
Revolutionsschriften und den in Jena entstandenen Werken auf, zu denen die
Wissenschaftslehre (1794) und der Grundlage des Naturrrechts (1796) gehören.
Die Vernachlässigung seiner in Berlin entstandenen Arbeiten ist in historischer
und systematischer Hinsicht wenig gerechtfertigt. Das auf Basis einer
entsprechend interdisziplinären Arbeitsgruppe "Berliner Klassik
1786-1815" und einer veranstalteten Tagung herausgegebene Buch befaßt sich
damit, einen vielfältigen Zugang zu den in Berlin entwickelten Ideen des
Philosophen zu geben.
In Fortführung des Denkens Fichtes und Hegels stellt ein wesentliches Kernaxiom
der ‚deutschen Staatsidee’ mit Fichte die Kritik des ausschließlich
individualistischen philosophischen Erbes der Aufklärung dar. Ihr wird ein
immanenter Irrationalismus von latenter Despotie, Materialismus,
normativistischer Repression und kultureller Nivellierung angelastet. Dem
gegenüber erfolgt die Konzentration auf die sittlichen und ebenso rationalen
Kräfte der Tradition, Geschichte und Religion. Es wird reaktiv der Bezug auf
das organische Ganze, auf den sozial gegliederten Organismus, auf die soziale
und organische Demokratie, herausgestellt. Auffällig ist in der konservativen
Ausdeutung des Staatsideals die Betonung der Exekutiven in Form des Monarchen an
der Spitze sowie die paternalistische Tradition, eine Gepflogenheit, die sich
bis zum Reichpräsidenten der Weimarer Republik (Art. 48 WRV) fortführen
läßt, der mit exekutiven Befugnissen ausgestattet war und direkt vom Volk
gewählt wurde. Das Grundgesetz der Bundesrepublik bricht mit dieser Tradition,
da kein Staatsoberhaupt mit exekutiven Befugnissen mehr direkt gewählt werden
kann.
Es sind dies auch die Themen, denen sich das vorliegende Buch bezogen auf
Fichtes Berliner Zeit widmet. In seinem Text über "Religion, Revolution
und Transzendentalphilosophie" beispielsweise führt Christoph Asmuth
(Berlin) in die späte Religionsphilosophie Fichtes ein. Ausgehend von den
populärphilosophischen "Anweisungen zum seligen Leben" (1806) stellt
der Essay heraus, daß es Fichte um eine rationalisierte Fassung der
christlichen Metaphysik ging. Der Grundsatz, daß das Christentum vor der Kritik
der Philosophie bestehen können müsse, der im zeitgenössischen Berlin eine
durchaus verbreitete Überzeugung artikulierte, schlägt sich in Fichtes
Gottesbegriff nieder. Als Ausgang moralischer Verpflichtung und als oberste
transzendentale Bedingung des Wissens verweist der Titel "Gott" auf
die Realität des Vernünftigen schlechthin, von dem es keinen, gerade auch
keinen theologischen Begriff geben kann. Gegen die These, daß Fichtes
Philosophie als negative Theologie zu lesen sei, ist einzuwenden, daß Fichte
zufolge die Wissenschaftslehre eindeutig über den Standpunkt der Religion
hinausgeht, weil erst die Philosophie den genetischen Zusammenhang aller
Wissensformen transparent macht.
Hartmut Traubs (Mühlheim/R) Essay über "Fichtes Philosophie der Bildung
und Erziehung" belegt die Bedeutung der fichteschen Pädagogik gegenüber
aktuellen didaktischen Konzepten und weist auf den starken pädagogischen
Impuls, der sich generell durch Fichtes Denken in seiner Handlungsorientierung
zieht, hin. Fichte vertrat stets mit Emphase eine Philosophie der Praxis, mit
der er in seinen öffentlichen Vorträgen immer auch politisch wirken wollte.
Anders als in Jena suchte Fichte in Berlin weniger den Umgang mit Philosophen
und Literaten als vielmehr mit Mitgliedern der Regierung und der Administration.
Auch wenn Fichte, wie die Hörerlisten seiner öffentlichen Vorträge beweisen,
in diesen Kreisen durchaus Anklang fand, lassen die Preußischen Reformen einen
politischen Einfluß des Philosophen nur sehr indirekt erkennen. Spuren Fichtes
kann man finden in den Denkschriften Altensteins und Hardenbergs, in der
Universitätsgründung Humboldts und den Plänen der Militärreformer zu einem
Volkskrieg. Erwiesen ist hingegen, darauf verweist der Essay von Stefan Reiß
über Fichtes öffentliches Engagement in Berlin, daß unter seinen Hörern
Prinz August von Preußen, die preußischen Minister Altenstein, Ancillon, Graf
Dohna, Gerlach, Hardenberg, Haugwitz, Müller, Nagler, Schön, Schrötter, Voß,
der Leibarzt des Königs Hufeland sowie Johann Friedrich Gottlieb Dellbrück,
der Erzieher der Söhne Friedrich Wilhelms III., gehörten.
Daß Fichte 1807 die Menschenrechte als alleinige Prinzipien zur Errichtung
eines neuen Gemeinwesens für ungeeignet findet, kann nicht als generelle Absage
an die Menschenrechte interpretiert werden, sondern ist als Resultat einer
politischen Erfahrung, nämlich der tyrannischen Herrschaft Napoleons zu sehen.
Fichte vertritt 1807 die Position, daß die Menschenrechte durch ein
Rechtssystem und ein Staatsrecht ergänzt werden müssen, wenn man einem neuen,
republikanischen Staat ein sicheres Fundament geben will. Die Klugheitsrezepte,
die Fichte bei Machiavelli und Clausewitz tatsächlich findet, dienen
ausschließlich dem Ziel der Errichtung einer Republik und stehen im Rahmen
einer systematischen Anwendung des in Kants "Zum ewigen Frieden"
formulierten Erlaubnisgesetzes.
Auch Ursula Baumann (Mannheim/Berlin) betont in ihrem sehr zentralen Beitrag
über "Frühnationalismus und Freiheit: Fichtes Berliner Perspektiven einer
deutschen Republik" die eingangs vom Rezensenten erwähnte Kontinuität zu
den Ideen von 1789. Die "Reden an die deutsche Nation" sind vor dem
Hintergrund der Selbstvergewisserung gegen Napoleon zu verstehen. Das zentrale
und immer noch relevante Thema der "Reden" ist die Frage, wie sich ein
stabiles Gemeinwesen konstituieren kann, in der die Individuen das Gemeinwohl
als ihre eigene Sache begreifen. Fichte entwirft hier das Projekt einer
sittlichen Gemeinschaft, die über einen bloß legalen Rechtszustand hinausgeht
und als ideale deutsche Republik die ursprünglichen Ideale der Französischen
Revolution in ganz Europa verbreiten soll. Sinnvoll ist es hier zurecht,
herauszustellen, daß Fichtes Reden ihren Hauptgrund in dem unabänderlichen
Willen hatten, das Ziel der politischen Wirksamkeit derselben zu untermauern.
Sein nationales Befreiungsprogramm erklärt sich damit aus den Umständen der
Zeit und seines spezifischen Begriffs von Philosophie als Lehre für die Praxis.
Denn in der Tat ist Fichte als derjenige Philosoph bekannt, der dem Philosophen
wie Platon eine politisch-erzieherische Leitungsposition zuspricht.
Sprache und Sitten als Kern einer demokratischen Kulturgemeinschaft, die nur als
solche einem Europa kulturelle Pluralität zu verleihen in der Lage ist, stehen
in der Tradition Herders und Fichtes. Fichte betont in seinen "Reden an die
deutsche Nation" die kulturelle Bildung der Nation als Vorstufe zur rein
menschlichen Bildung. (Fichte, Johann Gottlieb von 1869: Reden an die deutsche
Nation [1808]. Historisch-politische Bibliothek, Berlin.) Er synthetisiert
Weltbürgertum und Patriotismus mit dem Ziel der Organisation menschlicher
Gesellschaft nach dem Bilde der Vernunft und der Maxime staatspolitischer
Unabhängigkeit. Damit spricht er sich für einen bürgerlichen Patriotismus von
Menschen gleicher Sprache und Kultur als mikrokosmischer Prämisse für einen
menschheitlichen Makrokosmos aus, ohne die Souveränität der Völker zu
leugnen, wie es dem amerikanischen Kosmopolitismus oft vorgeworfen wird. Blicken
wir nun auf die staatsphilosophische Gefahr des demokratischen Despotismus, der
nach Fichte die wahrhafte Identität und Moralität durch ein fragliches
‚Ego’ polykultureller Einzelner ersetzt, so ist die Bedeutung des
Kosmopolitismuskonzepts der nationalen Demokratie im Sinne Fichtes, das sich wie
auch bei Carl Goerdeler oder Edgar Julius Jung der ‚Vergewaltigung’ anderer
Kulturen enthält, nicht zu leugnen. Vor allem in Anbetracht dessen, daß das
Grundgesetz unter dem Eindruck der deutschen Katastrophe explizit von der
Gesamtheit des deutschen Volkes ausging und in seiner Präambel explizit vom
‚Deutschen Volk’ spricht, so daß es im Gefolge der Propagierung des
polykulturellen Indifferentismus sinnentleert wäre, sind die Reden Fichtes
sogar zeitgemäß. Baumann hätte an dieser Stelle den Bezug zur Gegenwart mehr
herausstellen können.
Fazit
Dennoch, die Beiträge des vorliegenden Bandes sind gerade wegen ihres
kontextuell heterogenen Charakters bestens dazu geeignet, die Denkweise und das
politische Wirken Fichtes in Berlin im Bereich der theoretischen als auch in dem
der praktischen Philosophie nachzuvollziehen. Das öffentliche Wirken Fichtes ab
1804 war nicht denkbar ohne den Resonanzboden, den die damalige preußische
Metropole bot. Insbesondere die Reden an die deutsche Nation hätten schwerlich
in der Provinz gehalten und ohne den napoleonischen Einmarsch verstanden werden
können.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 18. Mai 2008 2008-05-18 10:43:41