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Ursula Baumann: Fichte in Berlin: Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis

Fichte in Berlin: Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis

von Ursula Baumann
Verlag: Wehrhahn Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-932324-34-5

Preis: 28,00 Euro bei Amazon.de [Stand: 22. Dezember 2024]
In seinen frühen Schriften vertritt der Philosoph Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814) einen bürgerlichen Freiheitsbegriff, der die Geistesverwandtschaft der deutschen idealistischen Demokratietheorie mit der Französischen Revolution aufzeigt. Er stärkt die Autonomie des sittlichen ‚Ich’ gegen die konservative Reaktion, gegen eine historisch erstarrte Auffassung, die sich für ihn nur noch mit repressiver Gesinnung aufrechterhält. Ihm geht es um die Versöhnung des sittlich autonomen Subjektes im kantischen Sinne mit einer von ihm entfremdeten politischen Umwelt. Politische Philosophie wurde hier zur realpolitisch relevanten Maxime.

Der Vernunftoptimismus gestattete es Fichte, autonomes Selbstbewußtsein und gemeinschaftliche Vollkommenheit in eins zu setzen. Theoretisch und pädagogisch sollte die bürgerliche Freiheit als Muster auch für eine die Nationen anerkennende bürgerliche Weltordnung gelten. Freiheit und Bürgerlichkeit fußen bei ihm auf einem geistig-kontemplativen Bewußtsein für die sittlich-humanistische Vervollkommnung. Aufklärung und Deutscher Idealismus korrelieren vor dem Hintergrund eines ganzheitlich-staatsphilosophischen Rahmens von Individuum, Gemeinschaft, Freiheit, Volk und Menschheit. Die Dialektik eines Umschlages in Unfreiheit, Unwahrheit und abstrakte moralische Forderungen seitens des Staates wird von Fichte durchaus erkannt. Er schreibt in praktischer Absicht über den Staat: "Er darf sich nicht die Entscheidung über Wahrheit und Irrtum anmaßen, (...), er darf die freie Untersuchung nie hindern." (Johann Gottlieb Fichte 1967: Über die Achtung des Staates für die Wahrheit [1792], in: Willms, Bernard (Hrsg.), Fichtes Revolutionsschriften, 1967, S. 9.) So existiert in der alten deutschen Staatslehre intentional eine Idee der Freiheit, in der Freiheit vielmehr durch den Staat als durch die Gemeinschaft eines Volkes bedroht ist.

In der Philosophiegeschichte taucht Fichte hauptsächlich mit seinen frühen Revolutionsschriften und den in Jena entstandenen Werken auf, zu denen die Wissenschaftslehre (1794) und der Grundlage des Naturrrechts (1796) gehören. Die Vernachlässigung seiner in Berlin entstandenen Arbeiten ist in historischer und systematischer Hinsicht wenig gerechtfertigt. Das auf Basis einer entsprechend interdisziplinären Arbeitsgruppe "Berliner Klassik 1786-1815" und einer veranstalteten Tagung herausgegebene Buch befaßt sich damit, einen vielfältigen Zugang zu den in Berlin entwickelten Ideen des Philosophen zu geben.

In Fortführung des Denkens Fichtes und Hegels stellt ein wesentliches Kernaxiom der ‚deutschen Staatsidee’ mit Fichte die Kritik des ausschließlich individualistischen philosophischen Erbes der Aufklärung dar. Ihr wird ein immanenter Irrationalismus von latenter Despotie, Materialismus, normativistischer Repression und kultureller Nivellierung angelastet. Dem gegenüber erfolgt die Konzentration auf die sittlichen und ebenso rationalen Kräfte der Tradition, Geschichte und Religion. Es wird reaktiv der Bezug auf das organische Ganze, auf den sozial gegliederten Organismus, auf die soziale und organische Demokratie, herausgestellt. Auffällig ist in der konservativen Ausdeutung des Staatsideals die Betonung der Exekutiven in Form des Monarchen an der Spitze sowie die paternalistische Tradition, eine Gepflogenheit, die sich bis zum Reichpräsidenten der Weimarer Republik (Art. 48 WRV) fortführen läßt, der mit exekutiven Befugnissen ausgestattet war und direkt vom Volk gewählt wurde. Das Grundgesetz der Bundesrepublik bricht mit dieser Tradition, da kein Staatsoberhaupt mit exekutiven Befugnissen mehr direkt gewählt werden kann.

Es sind dies auch die Themen, denen sich das vorliegende Buch bezogen auf Fichtes Berliner Zeit widmet. In seinem Text über "Religion, Revolution und Transzendentalphilosophie" beispielsweise führt Christoph Asmuth (Berlin) in die späte Religionsphilosophie Fichtes ein. Ausgehend von den populärphilosophischen "Anweisungen zum seligen Leben" (1806) stellt der Essay heraus, daß es Fichte um eine rationalisierte Fassung der christlichen Metaphysik ging. Der Grundsatz, daß das Christentum vor der Kritik der Philosophie bestehen können müsse, der im zeitgenössischen Berlin eine durchaus verbreitete Überzeugung artikulierte, schlägt sich in Fichtes Gottesbegriff nieder. Als Ausgang moralischer Verpflichtung und als oberste transzendentale Bedingung des Wissens verweist der Titel "Gott" auf die Realität des Vernünftigen schlechthin, von dem es keinen, gerade auch keinen theologischen Begriff geben kann. Gegen die These, daß Fichtes Philosophie als negative Theologie zu lesen sei, ist einzuwenden, daß Fichte zufolge die Wissenschaftslehre eindeutig über den Standpunkt der Religion hinausgeht, weil erst die Philosophie den genetischen Zusammenhang aller Wissensformen transparent macht.

Hartmut Traubs (Mühlheim/R) Essay über "Fichtes Philosophie der Bildung und Erziehung" belegt die Bedeutung der fichteschen Pädagogik gegenüber aktuellen didaktischen Konzepten und weist auf den starken pädagogischen Impuls, der sich generell durch Fichtes Denken in seiner Handlungsorientierung zieht, hin. Fichte vertrat stets mit Emphase eine Philosophie der Praxis, mit der er in seinen öffentlichen Vorträgen immer auch politisch wirken wollte. Anders als in Jena suchte Fichte in Berlin weniger den Umgang mit Philosophen und Literaten als vielmehr mit Mitgliedern der Regierung und der Administration. Auch wenn Fichte, wie die Hörerlisten seiner öffentlichen Vorträge beweisen, in diesen Kreisen durchaus Anklang fand, lassen die Preußischen Reformen einen politischen Einfluß des Philosophen nur sehr indirekt erkennen. Spuren Fichtes kann man finden in den Denkschriften Altensteins und Hardenbergs, in der Universitätsgründung Humboldts und den Plänen der Militärreformer zu einem Volkskrieg. Erwiesen ist hingegen, darauf verweist der Essay von Stefan Reiß über Fichtes öffentliches Engagement in Berlin, daß unter seinen Hörern Prinz August von Preußen, die preußischen Minister Altenstein, Ancillon, Graf Dohna, Gerlach, Hardenberg, Haugwitz, Müller, Nagler, Schön, Schrötter, Voß, der Leibarzt des Königs Hufeland sowie Johann Friedrich Gottlieb Dellbrück, der Erzieher der Söhne Friedrich Wilhelms III., gehörten.

Daß Fichte 1807 die Menschenrechte als alleinige Prinzipien zur Errichtung eines neuen Gemeinwesens für ungeeignet findet, kann nicht als generelle Absage an die Menschenrechte interpretiert werden, sondern ist als Resultat einer politischen Erfahrung, nämlich der tyrannischen Herrschaft Napoleons zu sehen. Fichte vertritt 1807 die Position, daß die Menschenrechte durch ein Rechtssystem und ein Staatsrecht ergänzt werden müssen, wenn man einem neuen, republikanischen Staat ein sicheres Fundament geben will. Die Klugheitsrezepte, die Fichte bei Machiavelli und Clausewitz tatsächlich findet, dienen ausschließlich dem Ziel der Errichtung einer Republik und stehen im Rahmen einer systematischen Anwendung des in Kants "Zum ewigen Frieden" formulierten Erlaubnisgesetzes.

Auch Ursula Baumann (Mannheim/Berlin) betont in ihrem sehr zentralen Beitrag über "Frühnationalismus und Freiheit: Fichtes Berliner Perspektiven einer deutschen Republik" die eingangs vom Rezensenten erwähnte Kontinuität zu den Ideen von 1789. Die "Reden an die deutsche Nation" sind vor dem Hintergrund der Selbstvergewisserung gegen Napoleon zu verstehen. Das zentrale und immer noch relevante Thema der "Reden" ist die Frage, wie sich ein stabiles Gemeinwesen konstituieren kann, in der die Individuen das Gemeinwohl als ihre eigene Sache begreifen. Fichte entwirft hier das Projekt einer sittlichen Gemeinschaft, die über einen bloß legalen Rechtszustand hinausgeht und als ideale deutsche Republik die ursprünglichen Ideale der Französischen Revolution in ganz Europa verbreiten soll. Sinnvoll ist es hier zurecht, herauszustellen, daß Fichtes Reden ihren Hauptgrund in dem unabänderlichen Willen hatten, das Ziel der politischen Wirksamkeit derselben zu untermauern. Sein nationales Befreiungsprogramm erklärt sich damit aus den Umständen der Zeit und seines spezifischen Begriffs von Philosophie als Lehre für die Praxis. Denn in der Tat ist Fichte als derjenige Philosoph bekannt, der dem Philosophen wie Platon eine politisch-erzieherische Leitungsposition zuspricht.

Sprache und Sitten als Kern einer demokratischen Kulturgemeinschaft, die nur als solche einem Europa kulturelle Pluralität zu verleihen in der Lage ist, stehen in der Tradition Herders und Fichtes. Fichte betont in seinen "Reden an die deutsche Nation" die kulturelle Bildung der Nation als Vorstufe zur rein menschlichen Bildung. (Fichte, Johann Gottlieb von 1869: Reden an die deutsche Nation [1808]. Historisch-politische Bibliothek, Berlin.) Er synthetisiert Weltbürgertum und Patriotismus mit dem Ziel der Organisation menschlicher Gesellschaft nach dem Bilde der Vernunft und der Maxime staatspolitischer Unabhängigkeit. Damit spricht er sich für einen bürgerlichen Patriotismus von Menschen gleicher Sprache und Kultur als mikrokosmischer Prämisse für einen menschheitlichen Makrokosmos aus, ohne die Souveränität der Völker zu leugnen, wie es dem amerikanischen Kosmopolitismus oft vorgeworfen wird. Blicken wir nun auf die staatsphilosophische Gefahr des demokratischen Despotismus, der nach Fichte die wahrhafte Identität und Moralität durch ein fragliches ‚Ego’ polykultureller Einzelner ersetzt, so ist die Bedeutung des Kosmopolitismuskonzepts der nationalen Demokratie im Sinne Fichtes, das sich wie auch bei Carl Goerdeler oder Edgar Julius Jung der ‚Vergewaltigung’ anderer Kulturen enthält, nicht zu leugnen. Vor allem in Anbetracht dessen, daß das Grundgesetz unter dem Eindruck der deutschen Katastrophe explizit von der Gesamtheit des deutschen Volkes ausging und in seiner Präambel explizit vom ‚Deutschen Volk’ spricht, so daß es im Gefolge der Propagierung des polykulturellen Indifferentismus sinnentleert wäre, sind die Reden Fichtes sogar zeitgemäß. Baumann hätte an dieser Stelle den Bezug zur Gegenwart mehr herausstellen können.
Fazit
Dennoch, die Beiträge des vorliegenden Bandes sind gerade wegen ihres kontextuell heterogenen Charakters bestens dazu geeignet, die Denkweise und das politische Wirken Fichtes in Berlin im Bereich der theoretischen als auch in dem der praktischen Philosophie nachzuvollziehen. Das öffentliche Wirken Fichtes ab 1804 war nicht denkbar ohne den Resonanzboden, den die damalige preußische Metropole bot. Insbesondere die Reden an die deutsche Nation hätten schwerlich in der Provinz gehalten und ohne den napoleonischen Einmarsch verstanden werden können.
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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 18. Mai 2008

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