Popeye wird Mr. Watts, der manchmal eine rote Clowns-Nase trägt, von den
Kindern auf Bougainville genannt. Als letzter Weißer harrt Watts in einem
verlassenen Missionshaus aus, nachdem die Insel durch eine Blockade von der Welt
abgeschnitten ist und auch der Lehrer die Insel verlassen hat. Wichtig kann
dieser merkwürdige Watts nicht sein, mein Matildas Mutter, sonst wäre er nicht
zurückgelassen worden. Watts nimmt die Dinge in die Hand, noch ehe sich die
wenigen Kinder der Insel an ein Leben ohne Schule gewöhnen - und ehe der
Dschungel sich das Schulgebäude zurückholen kann. Watts ist zwar kein Lehrer,
doch entschlossen, sein Bestes zu tun, kündigt er den Kindern einen Mr. Dickens
an. Zu ihrer Verblüffung erscheint dieser Mann nicht selbst, er ist Autor eines
Buchs. Watts liest den Kindern nun regelmäßig aus Dickens "Große
Erwartungen" vor. Die kleinen Zuhörer sind fasziniert davon, wie Watts
sich "beim Vorlesen selbst verschwinden lässt". Besonders für
Matilda wird die Hauptfigur Pip zur wichtigsten Person in ihrem Leben. Abends im
Bett erzählt Matilda ihrer Mutter vom fernen, merkwürdigen England. Matildas
Mutter reagiert skeptisch auf den literarischen Familienzuwachs. Sie kann nicht
einsehen, was dieser Pip ihrer heranwachsenden Tochter nützen soll und sie
spürt überdeutlich, wie Matilda ihr entgleitet. Die dreizehnjährige Matilda
wird mit den Vorbehalten ihrer Mutter gegen die Kultur der Weißen konfrontiert,
die Mr. Watts mit seinem Faible für Dickens verkörpert.
Watts weiß zwar vieles nicht, doch er weiß sich zu helfen. Er beschäftigt die
Mütter seiner Schülerinnen als Assistentinnen, lässt jede von ihnen einen
kleinen Vortrag halten. So schafft er sich Verbündete und festigt
unaufdringlich die Bindung der Kinder an ihre eigene Kultur. Die einfachen
Frauen erzählen über ihren Glauben, die Überlieferungen der Ahnen, über das
Meer, den Fischfang und traditionelle Heilmittel. Nicht nur Matilda sieht ihre
Mutter nun mit ganz anderen Augen.
Die Watt'sche Idylle währt nur kurze Zeit, bis Rebellenkämpfe zwischen
"Rothäuten" und "Rambos" auf die Insel vordringen. Obwohl
die Erwachsenen stets darauf bedacht waren, die Realität des erbitterten
Bürgerkriegs um die Insel vor Kinderohren zu verbergen, waren die Anzeichen
dafür überdeutlich. Der Rebellenführer spricht aus, was nicht zu übersehen
ist: Warum gibt es auf Matildas Insel nur Frauen und Kinder? Wo sind eigentlich
die alten und jungen Männer? Und wer ist dieser Pip, dessen Namen Matilda mit
Steinen und Muscheln auf den Strand geschrieben hat?
Der Ort von Matildas Begegnung mit Dickens, die Insel Bougainville im Pazifik,
war 1991 Schauplatz eines blutigen Bürgerkriegs, der 200.000 Einwohner das
Leben kostete.
Fazit
Die Erzählerin Matilda beschreibt ihre Beobachtungen mit drastischem, leicht
altklugen Humor in der bildhaften Sprache ihres Volkes. Matilda lässt sich
stärker als alle anderen Kinder von der Welt des Charles Dickens fesseln, die
Mr. Watts so viel bedeutet. Matilda erfährt, dass Erinnerungen einem nicht
genommen werden können, selbst wenn man sonst alles verloren hat. Lloyd Jones
vermittelt in seiner vordergründig idyllischen Erzählung sehr eindringlich die
Faszination von Literatur und den Zusammenprall von Fiktion und Realität.
"Mister Pip" erzählt nicht nur vom Ende einer Kindheit, von Gewalt
und Bürgerkrieg; Jones' Buch ist darüber hinaus ein kluges Zeugnis der
Begegnung zweier gegensätzlicher Kulturen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 10. Mai 2008 2008-05-10 07:48:05