Hölderlin ist jener Dichter der Deutschen, der in einmaliger Weise Dichter und
Denker zugleich war. Im Unterschied zu Goethe stand er nicht in einem
gespaltenen Verhältnis zur großen professionellen Philosophie seiner Zeit. Er
liebte die von Kant geprägte Kunst der Begriffe (486) und las ihren Nachfolger
Fichte, obwohl der dem fichteschen Idealismus mit seiner Absolutsetzung des
Subjekts ablehnend gegenüberstand. Hölderlin - und das wird erst heute
deutlich - war dagegen ebenbürtiger Mitdenker und Weiterdenker. (Vgl. Johannes
Heinrichs, Revolution aus Geist und Liebe, 2007) Im Unterschied zu Schiller
hatte er die Kantische "Revolution der Denkungsart" von Anfang an
ernst genommen. In Hölderlin ist eine Synergie von Dichten und philosophischem
Denken zu finden, die nicht umsonst klagt: "Hast du Verstand und ein Herz,
so zeige nur eines von beiden, beides verdammen sie dir, zeigest du beides
zugleich."
Als großer Lyriker wurde Hölderlin erst im 20. Jahrhundert entdeckt. Die
Intensität eines von allem Dekorativen befreiten Sagens, die kühne Metaphorik
und die Sprengung konventioneller Normen, insbesondere in den Gedichten nach
1800, ließ Hölderlin als Vorboten und zugleich schon frühen Vollender
moderner Ausdruckskunst erscheinen. Hinzu kommt noch eine ebenfalls einzigartige
Überfülle der unkonventionellen Bilder, welche die Strenge der
Gedankenführung zugleich unterstützen wie bis zur Unmerklichkeit dieser
Strenge auflockern, ganz im Unterschied zu einer barocken Art von Überfluss.
Der Hölderlinsche Überreichtum ein Bildern hat seine Wurzeln nicht im
Spielerischen, sondern in einem kämpferischen Ringen um den niemals
abgeschlossenen Ausdruck eines Unendlichen.
Dennoch stehen Hölderlins Gedichte im geistigen Horizont der Zeit:
Empfindsamkeit, Deutscher Idealismus, Französische Revolution, Philhellenismus,
Rousseaus Wendung zur 'Natur', die hyperbolische Steigerung des 'Dichterischen'
- sie verleihen seiner Poesie ihre geschichtliche Kontur. Die vorliegende
Ausgabe bietet eine chronologische Ordnung Hölderlins Gedichte mit einer
textkritischen Beschreibung. Alle Abweichungen gegenüber der Großen
Stuttgarter Ausgabe werden in den Kommentaren erläutert. Aufgrund ihres
Schwierigkeitsgrades und ihres Voraussetzungsreichtums bedarf Hölderlins Lyrik
einer intensiven Erschließung, zu der hiermit ein treffliches Werk vorliegt,
mit dem sich alle Gedichte studieren und verstehen lassen.
Die Ausgabe bietet daher Erläuterungen, die über das Bisherige hinausgehen.
Den bedeutenden und komplexen Gedichten gelten umfassende Überblickskommentare.
Sie sollen zu einem ganzheitlichen Verständnis hinführen. Aber auch für die
Einzelerläuterungen wurden ganze Bereiche erstmals erschlossen, so daß nun
viele Texte besser verständlich oder überhaupt erst zugänglich geworden sind.
Zentrale Gedichte wie "Hälfte des Lebens", vor deren Üppigkeit das
damalige Zeitverständnis versagte, sind damit verständlich und nachschlagbar.
Es setzt sich damit heute ein Hauch jener Faszination an Hölderlin fort, die
1913-1916 erstmals schon der Hölderlin-Herausgeber Norbert von Hellingrath mit
seiner Herausgabe des damals bekannten Gesamtwerkes, von dem insbesondere der
vierte Band nachwirken sollte, entfachte. Was Hölderlin von Schiller und Goethe
unterschied - und auch das repräsentieren die vorliegenden Seiten - war die
Kraft der Vorstellung einer wahren Kultur, eines universalen
Lebenszusammenhangs, die Idee, daß Deutschland zur Hervorbringung einer solchen
Kultur berufen sei und die Betonung des Evolutionsgedankens nach der
gescheiterten Revolution in Frankreich.
Fazit
Die meisten Gedichte verdeutlichen die Unendlichkeit der Distanz zwischen der
Welt und dem sich zurücknehmenden Ich. So entsteht nunmehr ein verständliches
Bild von Hölderlin, der entsprechend schrieb:
"Ein Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren."
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 16. März 2008 2008-03-16 14:28:51